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Warum dieser Reutlinger mit 64 in Tübingen studiert

Der Reutlinger Bernd Rieger entschied sich, mit 64 Jahren einen Abschluss an der Universität Tübingen anzustreben. Er teilt seine Beweggründe und ob er ein Studium im Seniorenalter empfehlen kann.

Als jahrelanger Sammler von Gemälden, fiel Bernd Rieger die Wahl seines Studiengans Kunstgeschichte ziemlich einfach.
Als jahrelanger Sammler von Gemälden, fiel Bernd Rieger die Wahl seines Studiengangs Kunstgeschichte ziemlich einfach. Foto: Emanuel Chatzis
Als jahrelanger Sammler von Gemälden, fiel Bernd Rieger die Wahl seines Studiengangs Kunstgeschichte ziemlich einfach.
Foto: Emanuel Chatzis

REUTLINGEN. Die Universitäten und Hochschulen sind meist der nächste Schritt vor dem Berufsleben für junge Menschen nach ihrem Abitur oder der Ausbildung. Das schließt aber nicht aus, dass ein Studium auch in späteren Lebensabschnitten noch einmal möglich wäre - die Zahl an Senioren, die sich für ein Studium entscheiden, steigt jährlich. Aus einer Meldung der Deutschen Presse Agentur geht hervor, dass im Wintersemester 2022/23 477 Menschen über 60 Jahren die Vorlesungen und Seminare der Bildungsstätten im Südwesten besuchten. Damit haben sich die Zahlen in den vergangenen zehn Jahren nahezu verdoppelt. Eine Entwicklung, die auch in Tübingen zu erkennen ist: Derzeit sind 101 Studenten über 60 an der Eberhard Karls Universität eingeschrieben. Besonders beliebt sind geisteswissenschaftliche Studiengänge wie Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte.

»Es gab schon eine gewisse Skepsis gegenüber uns Alten«

Bernd Rieger hat sein Kunstgeschichte-Studium inzwischen hinter sich. Vor zwölf Jahren schrieb sich der 76-Jährige in Tübingen ein und hat nun einen Bachelor- und Masterabschluss vorzuweisen. Danach entschied er sich sogar noch, zu promovieren. »Ich wusste, ich mache es entweder ganz oder gar nicht«, sagt der Reutlinger heute. »Nebenbei studieren ist nichts für mich.« Seit jungen Jahren ist Rieger Kunstsammler, aus seinem Hobby wollte er »etwas sinnvolles machen.« Mit dem Studium betrat er Neuland, denn die Nebensitzer im Seminar hatten erst kürzlich ihr Abitur gemacht, die Dozenten waren größtenteils jünger als er selbst.

»Es gab schon eine gewisse Skepsis der Jungen gegenüber uns Alten«, erinnert sich Rieger zurück. Die jüngeren Kommilitonen konnten er und sechs weitere Senioren aber mit ihrer motivierten Arbeitsweise überzeugen und wurden zu begehrten Partnern für Gruppenarbeiten. Der Generationenunterschied bei den gemeinsamen Hausarbeiten oder PowerPoint-Präsentationen war für Rieger jedoch kein Hindernis, sondern oft das Besondere an der Arbeit in den Seminaren. Der ehemalige Student war fasziniert zu sehen, »wie die jungen Leute an Problemlösungen rangehen.«

»Man kann heute viel breiter studieren«

Rieger ist sich sicher, dass »wir Älteren mit unserer Erfahrung schon helfen konnten. Ich habe zum Beispiel eine ökonomische Sichtweise eingebracht, ein Arzt hat die Anatomie in den Bildern hinterfragt.« Dem Kunsthistoriker war es trotzdem wichtig, seine eigenen Beiträge zu hinterfragen und die Sichtweise der jüngeren Seminarteilnehmer nachzuvollziehen, selbst wenn die Meinungen mal auseinandergingen. Das konnte auch hin und wieder zu sachlichen Diskussionen führen. Dennoch hat er sich schnell »voll integriert« gefühlt und war wie alle anderen Teilnehmer der Kurse bei Exkursionen dabei und besuchte Kunstmuseen im In- und Ausland.

Dabei war es für den Reutlinger nicht das erste Studium. 1970 studierte er im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Gesamthochschule in Siegen. Eigentlich war es Riegers Wunsch, Fotograf zu werden, »aber mein Vater meinte, ich soll erst einmal eine Banklehre absolvieren.« Im Vergleich zu seinem Erststudium fiel ihm vor allem auf, »wie viel breiter man heute studieren kann. In den einzelnen Fachbereichen gibt es viel mehr Differenzierungen als früher.« Außerdem seien heutzutage deutlich mehr Anglizismen Teil des Sprachgebrauchs und der Literatur. Die Internationalisierung der Abschlüsse hat für Rieger aber den großen Vorteil, dass dadurch Kooperationen mit Universitäten im Ausland entstehen und das Studium auch Türen außerhalb von Deutschland öffnen kann.

»Ich könnte auch immer noch studieren«

Nach seinem Diplomabschluss in Nordrhein-Westfalen ging es dann mit Frau und Kind nach Baden-Württemberg, wo Rieger Fuß in der Medienbranche fasste. Lange Zeit widmete er sich dem Privatfunk und war unter anderem Mitgründer des Senders »Radio Achalm«, bevor es ihn Ende der 1990er Jahre zum Öffentlich-rechtlichen-Rundfunk zog. Nachdem er 2009 als Prokurist beim Südwestrundfunk (SWR) ausschied, entschied er sich noch einmal, die Lehrbücher der Universitätsbibliothek in die Hand zu nehmen. Zum Leidwesen seiner Ehefrau, wie der 76-Jährige lachend erzählt: »Wenn sie gewusst hätte, dass ich genauso lang studiere, wie beim ersten Mal, dann hätte sie mir das nicht erlaubt.«

Den Kontakt zum Tübinger Campus hat Rieger seit seinem Abschluss aber nicht verloren. Er tauscht sich weiterhin mit ehemaligen Kommilitonen und Dozenten aus und besucht regelmäßig die Bibliothek. »Ich könnte auch immer noch studieren«, sagt der Reutlinger. Eine wirkliche Überlegung gab es hier aber nicht, da er sich nach sechs Jahren etwas ausgelaugt fühlte. Ein Studium könne er aber jedem wärmstens empfehlen, das halte nämlich den Geist wach. Er rät, ein Fach zu wählen, mit dem man sich schon länger intensiv beschäftigen wollte. Danach heißt es nur noch »unvoreingenommen auf die Sache rangehen und sich auf eine neue und aufregende Erfahrung« einzulassen. (GEA)