Vor 20 Jahren startete die erste Vesperkirche in Stuttgart, heute gibt es in Baden-Württemberg über 20 solcher Projekte. Die Idee dahinter: »Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten sollen zusammenrücken und sich kennenlernen«, erläutert Pfarrer Christoph Cless. »Die Menschen sollen bei uns zu Gast sein und sich wohlfühlen.« Getragen wird die Vesperkirche von der evangelischen Gesamtkirchengemeinde Tübingen. Die Kosten in Höhe von rund 50 000 Euro werden überwiegend aus Spenden finanziert.
Nottische im Altarraum
Wer knapp bei Kasse ist, für den ist das Angebot gratis. Die restlichen Besucher geben, was sie können. Auch die Hunde, die draußen warten müssen, werden mit Wasser und Futter versorgt. Die Tagesgerichte, eines mit Fleisch und ein vegetarisches, stehen auf einer großen Tafel am Eingang. In Spitzenzeiten wird eben improvisiert und durch Nottische im Altarraum mehr Plätze geschaffen.Nach dem Mittagessen beginnt traditionell der Ansturm auf die Kuchentheke. »Manch einem treiben die selbst gebackenen Kuchen Tränen in die Augen, weil sie an vergangene oder verlorene Zeiten mit der Familie erinnern«, erzählt der Pfarrer.
Dieses Jahr befinden sich verstärkt Flüchtlinge aus den verschiedensten Ländern unter den Besuchern. Sie gehören zu einer Gruppe von 60 Flüchtlingen, die auf dem Berg in ehemaligen Sozialwohnungen untergekommen sind.
Aus Platzgründen musste die Kleiderkammer in das Haus der Wohnungslosenhilfe in der Eberhardstraße 53 umziehen. Sie ist montags bis freitags von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Der neu gewonnene Raum wird nun für Gesundheitsdienste genutzt. Die Gäste können sich die Haare schneiden, sich massieren lassen oder eine Fußpflegerin aufsuchen.
Seit diesem Jahr bietet ein Ärztepaar im Ruhestand in einem eigens hergerichteten Raum einmal wöchentlich seine Dienste an.
Unter den Gästen sind immer mehr Menschen, die materiell auf diese Unterstützung angewiesen sind, weil ihr Geld nicht zum Leben reicht. Daher hat das Projekt neben dem Dienst am Nächsten auch eine politische Botschaft. »Die Vesperkirche soll kein bloßes Trostpflästerchen sein«, bekräftigt Cless. »Es weist auch darauf hin, dass in Deutschland auf besorgniserregende Art und Weise die Besitzschere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft.«
Erwin Plaster, einer der Gäste, bringt es auf den Punkt: »Das Essen steht nicht so sehr im Vordergrund. Es geht vielmehr um die Gemeinschaft. Ich schätze es, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen und ihre Gedanken kennenzulernen.« (GEA)