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Wahlkreis Tübingen ohne Abgeordnete: Welche Nachteile das hat

Tübingen-Hechingen hatte stets mindestens zwei Abgeordnete in Berlin. Zwischendurch sogar mal fünf. Jetzt ist der Wahlkreis verwaist. Wie die Parteien damit umgehen.

Finden Großprojekte wie der Ausbau der B 27 jetzt noch ausreichend Unterstützung? Bei der Freigabe der Strecke zwischen Bläsibad und Dußlingen 2006 gab‘s viel Lob für die Abgeordneten Annette Widmann-Mauz und Herta Däubler-Gmelin (Bildmitte), ohne die das Vorhaben nicht vorangekommen wäre Foto: Pacher
Finden Großprojekte wie der Ausbau der B 27 jetzt noch ausreichend Unterstützung? Bei der Freigabe der Strecke zwischen Bläsibad und Dußlingen 2006 gab‘s viel Lob für die Abgeordneten Annette Widmann-Mauz und Herta Däubler-Gmelin (Bildmitte), ohne die das Vorhaben nicht vorangekommen wäre
Foto: Pacher

TÜBINGEN. Boris Palmer hat grundsätzliche Einwände: Dass ein ganzer Landstrich nicht vertreten ist, darf in einer repräsentativen Demokratie eigentlich nicht vorkommen, findet der Tübinger OB. »Die Menschen brauchen Ansprechpartner, die sie gewählt haben.« Die Abgeordneten aus anderen Wahlkreisen sind nicht mehr »direkt greifbar«. Auch bei Jubiläen und großen Empfängen fehle der Mann oder die Frau aus Berlin.

Weiterer Kritikpunkt: Das Direktmandat ist für jeden ein großer Anreiz, sich einzusetzen und um die Themen im Wahlkreis selbst zu kümmern. Bekommt der Listenplatz größere Bedeutung, verschiebt sich das Gewicht zu den Parteien hin, glaubt der Rathauschef. Für kleinere Gemeinden werde es zudem schwieriger, Ansprechpartner zu finden. Das könne finanzielle Nachteile bringen, wenn man bei Zuschussprogrammen keine engagierten Fürsprecher mehr habe. Bei Großprojekten wie der B27 und der Regionalstadtbahn habe die Unterstützung in Berlin eine entscheidende Rolle gespielt. Palmers Fazit: »Es ist ein gravierender Nachteil, dass der Wahlkreis verwaist ist - obwohl ja ein Kandidat gewählt wurde.«

1.200 Abgeordneten-Termine im Jahr

Thomas Hölsch, Sprecher der Bürgermeister im Landkreis Tübingen, teilt Palmers Einschätzung. Gerade bei den Großprojekten wie B27 und Regionalstadtbahn: »Wenn wir keine Abgeordneten in Berlin gehabt hätten, wäre das nicht so gekommen.« Wenn Mittel zur richtigen Zeit in der benötigten Höhe bereitgestellt werden müssen, kommt es nach seiner Beobachtung sehr darauf an, dass man an den entscheidenden Stellen seine Argumente vorbringen kann.

Was die Kritiker einwenden, kann Michael Donth aus seinen täglichen Erfahrungen bestätigen. Die vielen Kontakte im Wahlkreis Reutlingen sind dem CDU-Abgeordneten wichtig. Er rechnet vor: 22 Wochen ist er in Berlin, 30 Wochen im Wahlkreis - und hier nimmt er im Jahr etwa 1.200 Termine wahr. Besuche bei Unternehmen und Verbänden, in Schulen, bei Veranstaltungen von Kommunen und Vereinen und anderes mehr: »Da sein, ansprechbar sein« hält er für unverzichtbar. Dass die Bürger bei dieser Gelegenheit Anregungen und Wünsche loswerden können, gehört für ihn unbedingt dazu.

Direkte Verbindung unverzichtbar

Beate Müller-Gemmeke sieht das ähnlich. Podien, Besuche von Einrichtungen und Fachgespräche und solche mit Einzelpersonen: Die Grünen-Abgeordnete aus Reutlingen hat den direkten Austausch immer geschätzt und festgestellt, dass es einer Sache sehr dienlich sein kann, wenn man Akteure aus bestimmten Bereichen wie Arbeitsmarkt oder Pflege an einen Tisch holt.

»Eine direkte Vertretung in Berlin zu haben, ist elementar«, betont Annette Widmann-Mauz. Die ehemalige Staatsministerin und bisherige Tübinger CDU-Abgeordnete gehört wie die frühere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) zu denen, deren Namen im Kreis Tübingen sehr häufig genannt werden, wenn es um bedeutende Vorhaben und Unterstützung an entscheidenden Stellen in Berlin geht - zum Beispiel bei B 27 und Regionalstadtbahn. Widmann-Mauz kann bestätigen: Wenn die Vertreter der Region mit den Experten in den Ministerien und Behörden zusammengebracht werden, wirkt sich das förderlich aus.

Nicht Nabel der Welt

Dass Tübingen keine Stimme mehr im künftigen Bundestag mehr hat, hält sie für sehr bedauerlich. Aus Berliner Sicht sei Tübingen nun mal nicht Nabel der Welt, sondern nur eine Perle in einer langen Kette. »Da fällt es dann manchen gar nicht auf, wenn die fehlt.«

Wie man dafür sorgt, dass diese Perle weiter Beachtung findet, darüber machen sich derzeit viele Gedanken. Für Widmann-Mauz ist klar: »Man kann ein Bundestagsmandat nicht im Ehrenamt ausüben.« Christoph Naser - der im Übrigen ein Sonderfall ist, weil ihm auch der beste Platz auf der Landesliste nicht zum Einzug ins Parlament verholfen hätte - braucht Unterstützung durch ein Netzwerk in der Landesgruppe. Ihr Einstieg 1998 taugt nicht als Vorbild. Die Balingerin hatte zwar den Wahlkreis adoptiert, weil Claus-Peter Grotz das Direktmandat verfehlt hatte und nicht auf der Landesliste abgesichert war. Doch sie hatte Luft, weil sie nicht als Wahlkreis-Kandidatin ins Amt gekommen war. »Die Situation war eine andere.«

Paten aus der Nachbarschaft

Parteikollege Michael Donth aus dem Nachbar-Wahlkreis bestätigt: »Wir werden Christoph Naser nicht alleine lassen.« Offenbar gab's schon eine ganze Reihe von Gesprächen dazu. Weitere werden folgen. In wichtigen Themen wie Regionalstadtbahn und B27 ist Donth seit Jahren eingearbeitet - die gehen ja die ganze Region und nicht nur Tübingen-Hechingen an.

Die Bürgermeister der drei Landkreise beim Werben für die Stadtbahn. Ohne direkte Ansprechpartner in Berlin ist die Umsetzung viel schwieriger Foto: Kreibich
Die Bürgermeister der drei Landkreise beim Werben für die Stadtbahn. Ohne direkte Ansprechpartner in Berlin ist die Umsetzung viel schwieriger
Foto: Kreibich

Auch bei anderen Parteien sind Überlegungen im Gange, wie man mit der verzwickten Lage umgeht. Anne Zerr von den Linken hat angekündigt, sie werde in Tübingen ein Abgeordnetenbüro eröffnen. Müller-Gemmeke von den Grünen sagt: »Natürlich muss man die Lücke füllen«. Die Grünen-Hochburg nach Walter Schwenninger, Winfried Hermann und Chris Kühn ohne Vertretung in Berlin - das soll kein Dauerzustand werden. »Tübingen ist ja nicht irgendeine Stadt«, sagt die Reutlingerin. Von dort seien immer wieder wichtige Impulse gekommen und kluge Köpfe. In vier Jahren, so die allgemeine Auffassung, soll Tübingen nach der Wahl nicht mehr verwaist sein. Andererseits ist das nicht so ganz einfach zu bewerkstelligen, mahnt der Dußlinger Bürgermeister Thomas Hölsch. Ohne Mandat fehle Neulingen auch die Gelegenheit, bekannt zu werden. (GEA)