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Verbindende Liebe zum Schattenspiel

DETTENHAUSEN. Auf einem Tisch in ihrem Zimmer stand die Urne mit der Asche ihres Mannes, eingerahmt von einem Foto des Verstorbenen und einem Foto ihres besten Freundes, dem Filmemacher Charles Renoir. Ihr letztes Lebensjahr verbrachte Lotte Reiniger, »die Meisterin des Scherenschnitts«, bei Alfred und Helga Happ in Dettenhausen. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass das Werk der Ausnahme-Künstlerin nicht in ihrer Geburtsstadt Berlin oder in London zu sehen ist, wo Lotte Reiniger 30 Jahre lang lebte, sondern in Tübingen.

Helga und Alfred Happ mit einer Figur aus der Mozartoper »Don Giovanni«.
Helga und Alfred Happ mit einer Figur aus der Mozartoper »Don Giovanni«. Foto: Ines Stöhr
Helga und Alfred Happ mit einer Figur aus der Mozartoper »Don Giovanni«.
Foto: Ines Stöhr
Alfred und Helga Happ, er Gemeindepfarrer, sie Grundschullehrerin, waren schon immer leidenschaftliche Schattenspieler. Er stammt aus einem fränkischen Dorf bei Coburg, sie aus Lübeck. Beim Studium in Marburg haben sie sich kennengelernt. »Über ein Kunstseminar«, erzählt sie. »Die Kunst war von Anfang an das Verbindende.« Vor allem die Faszination für Silhouetten. Mit einer eigenen kleinen Tischbühne ist das Paar mit Märchen und Geschichten von Josef Guggenmos und Tomi Ungerer auch öffentlich in Gemeindesälen der Region aber auch auf Festivals in München und Straßburg aufgetreten. Reiniger nannte es liebevoll »über die Dörfer tingeln«.

Im Laufe der Jahre legten Helga und Alfred Happ ein großes Archiv mit Spielfiguren an. »Für ein Spielset aus Indonesien haben wir sogar einen Kredit aufgenommen«, erzählt Alfred Happ. »Den ersten in unserem Leben.« Aber sie mussten die 150 Figuren aus Sperrholz unbedingt haben. Auch aus Nachlässen haben sie viele Scherenschnitte geschenkt bekommen. Eigentlich wollte er Skulpturen sammeln. »Gott sei Dank hat er das nicht gemacht«, sagt sie lachend.

Während sie Figuren zeichnete und ausschnitt, stürzte er sich in die Geschichte des Schattenspiels, organisierte unter anderem eine Ausstellung zu dem Thema in München. Über einen Vorfilm im Kino lernte das Paar Lotte Reiniger kennen und war begeistert. Sie wollten mehr über die Künstlerin herausfinden, aber niemand kannte die Frau. Bis ein Kirchengemeinderat dem Pfarrer die Adresse in London übermittelte, die er über die Bibelgesellschaft herausgefunden hatte.

»Ich bin jetzt für immer hier«

Happ schrieb Lotte Reiniger einen Brief, erklärte, er und seine Frau seien ohnehin zufällig in London und würden sie gerne besuchen. Das war Anfang der 70er-Jahre, da war die Pionierin des Animationsfilms schon über 70 Jahre alt und längst englische Staatsbürgerin. Sie empfing die Gäste aus Deutschland in einer rot-weiß gepunkteten Schürze und hatte Gulasch gekocht, erinnert sich Helga Happ an die erste Begegnung. Man verstand sich auf Anhieb. Stundenlang hat Lotte Reiniger erzählt und ihre Kunstschätze gezeigt. »Wir wollten alles sehen«, sagt Alfred Happ.

Es folgten weitere Besuche und Gegenbesuche, bei denen die Künstlerin auch die Tübinger Verlegerin Else Wasmuth traf, und weil Lotte Reiniger keine Verwandten hatte - ihr Mann war 1963 gestorben - boten sie ihr an, zu ihnen zu kommen, wenn es alleine nicht mehr ging. Bei ihrem letzten Besuch in Dettenhausen blieb Lotte Reiniger länger als sonst. Und als Alfred Happ sie fragte, wie lange sie denn noch Zeit hätte, sagte sie: »Kinder, ich bin jetzt für immer hier.«

Das war anfangs nicht leicht, gesteht Helga Happ. Die alte Dame war inkontinent und eine starke Raucherin. »Weil sie aber immer freundlich und so herzerwärmend war, hat sie es einem leicht gemacht, sie zu mögen.« So war sie bald sowohl »hochverehrte Künstlerin« als auch selbstverständlicher Teil der Familie und eine riesengroße Bereicherung. »Und auch die Hunde mochten sie, weil ihr beim Essen immer etwas 'runterfiel'«, erzählt Helga Happ. Den Töchtern war verboten, die Tiere am Tisch zu füttern.

In ihren Erzählungen gab sie unter anderem die große Nähe zu zeitgenössischen Künstlern wie Bert Brecht wieder, mit dem sie auch gemeinsam im Urlaub war. Nach der Uraufführung von dessen »Dreigroschenoper« saß man bei Lotte Reiniger auf dem Sofa, trank Kaffee und wartete auf die Kritiken. »Sie konnte sehr lebendig erzählen«, sagt Alfred Happ. »Es war, als wäre man selbst dabei gewesen. Wir haben uns später oft geärgert, dass wir nicht mitgeschrieben haben.«

Angst zu verreisen

Lotte Reiniger liebte den großen Pfarrgarten und hörte sich abends mit ihren Gastgebern oft Schallplatten von Mozart und Bach an. Sie trug stets wallende Gewänder, eine Kopfbedeckung und immer eine Kette oder eine Stola, erzählt Helga Happ. »Das hat vor allem unseren Töchtern gut gefallen. Zu Katharinas neuntem Geburtstag dachte sie sich ein Tiermärchen aus, schnitt kleine Figuren dazu und führte es am Kindergeburtstag auf.«

Weil Lotte Reiniger nicht gut im Organisieren war, sorgte Alfred Happ dafür, dass deren Freunde in England die Schätze der Künstlerin in knapp hundert Umzugskartons verpackten und sie als Papier- und Haushaltswaren deklariert nach Deutschland schickten. Der Dettenhausener Bürgermeister Helmut Bäche sorgte persönlich dafür, dass Lotte Reiniger ihre Werke aus dem Pariser Goethe-Institut zurückbekam.

Der Nachlass stapelte sich dann im Erdgeschoss des Pfarrhauses bis unter die Decke. Das Material zu sichten, dauerte Jahre. Anfangs noch mit Erklärungen von Lotte Reiniger selbst. »Wie gut, dass mein Mann ein so geduldiger Mensch ist«, sagt Helga Happ.

Nach einem zweiten Schlaganfall wurde die Künstlerin bettlägerig und hatte Mühe, sich zu artikulieren, war aber geistig fit. "Sie war nie allein, auch die Kinder haben sie häufig in ihrem Zimmer besucht. 20 Jahre lang lagerte der Nachlass im Haus der Happs. "Eine große Verantwortung", wusste die Familie. "Da durfte nichts passieren. Wir hatten zeitweise sogar Angst zu verreisen." In ihrem Testament hatte Lotte Reiniger verfügt, dass ihre künstlerische Arbeit zu gleichen Teilen Alfred und Helga Happ sowie der Verlegerin Else Wasmuth gehören sollte. Die Dettenhausener überließen ihren Teil nach dem Sortieren dem Tübinger Stadtmuseum.

Am Tag vor ihrem Tod hat Lotte Reiniger noch ein Gläschen Wein getrunken und eine halbe Zigarette geraucht. Und war dann schwer atmend für immer eingeschlafen. Alfred Happ hat sie zusammen mit der Urne ihres Mannes auf dem Dettenhausener Friedhof beerdigt. (GEA)