TÜBINGEN. Der erste von zwei Kähnen der Burschenschaft ATV Arminia, gesteuert von Jakob Gaiser, gewann das diesjährige Tübinger Stocherkahnrennen. Gaiser stocherte die Arminia bereits vor zwei Jahren zum Sieg. »Dabei bin ich kurz nach dem Start ins Wasser gefallen«, sagte Gaiser, »danach mussten wir improvisieren.«
Doch auf der Strecke flussabwärts löste sich der Arminia-Kahn, zusammen mit je einem Boot der Nicaria und der Franconia, schnell vom Rest des Felds. Kurz vor dem Nadelöhr an der Neckarbrücke lagen diese drei Kähne fast gleichauf. Die Arminia-Crew passierte die Engstelle als Erste – und gab die Führung bis ins Ziel nicht mehr ab.
Bier, Wein und Würstchen
Zum diesjährigen Stockerkahnrennen kamen wieder tausende Zuschauer. Viele davon bereits früh am Donnerstag: »Ich war um zehn Uhr hier an der Neckarmauer. Die Platanenallee war bereits halb voll«, berichtete der Tübinger Abiturient Philipp Frank. Er betrachtete das Spektakel zusammen mit zwei Freunden. Wie überbrückt man die Wartezeit bis zum Rennen am besten? »Wir haben Spielkarten und Bierchen dabei. Mehr braucht man nicht«, sagte Frank.
Weiterentwickelte Tradition
Ein paar Meter weiter, ebenfalls auf der Neckarmauer machte es sich eine fünfköpfige Gruppe um den Tübinger Marcel Wizemann gemütlich. Stilvoll, mit Picknickdecke und Gläsern zum Wein. Nichts zu essen? »Das bestellen wir beim Restaurant da vorne!« Nebenan zogen sich drei Mädchen ihre Isolierdecke über die Köpfe – gegen die Hitze an diesem sonnigen Tag. Richtig gute Plätze sind die auf der Wendeltreppe zur Neckarmauer hinab. Dort fand Nina Leipersberger aus Tübingen gegen 12 Uhr noch Platz. Sie freute sich vor allem auf den Flinta-Kahn, der die LGBTQ-Bewegung unterstützt. Sie sagte: »Tradition darf gewahrt werden, sie sollte sich aber auch weiterenwickeln.«
Auf der Neckarinsel war zu diesem Zeitpunkt bereits das große Gewusel ausgebrochen. Die besten Plätze am Wasser waren belegt. Einige versuchten noch, flussaufwärts ein schattiges Plätzchen zu finden. Die freiwillige Feuerwehr Derendingen, die einen Grillstand mit roten Würstchen betrieb, machte gestern ein gutes Geschäft. Aus dem Chaos-Rennen letztes Jahr ging die Alte Turnerschaft Palatia als Letzter heraus. Die Crew gehörte zu den Kahnbesatzungen, die noch nicht am Start waren, als das Rennen, vom Hochwasser beschleunigt, freigegeben wurde. »Darüber waren wir nicht glücklich«, sagte Tim Schulz, alter Herr der Palatia.
Erstklassige Organisation
Dafür zeigten sie sich am Donnerstag als hervorragende Organisatoren. Sie hatten sich gut darauf vorbereitet, dass das Telefonnetz in die Knie gehen könnte – was es dann auch tat: Die Palatianer nutzten Walkie-Talkies zur Verständigung. Vom Neckarfloss aus, dem Juryboot an diesem Tag, hatte Nils Necke-Schmidt den Überblick und die Ruhe, um mit dem Mikrofon in der Hand für alle vernehmbar für Ordnung, aber auch angenehme Stimmung zu sorgen.
So gab es keine bösen Worte für die Boote der Schaulustigen, die das Rennen an vorderster Stelle beobachten wollten – auf der Rennstrecke selbst. Zwei Helfer auf dem Boot der DLRG halfen beim Rangieren der Kähne, vor allem jener, die sich unter der Neckarbrücke postiert hatten, damit keine Gefahr für deren Besatzungen und denen der Teilnehmer bestand. Seiner Bitte »Passt auf Euch und die anderen auf!« entsprachen die Teilnehmenden und Zuschauer gleichermaßen.
Neun Kähne beim Kostümwettewerb
Necke-Schmidt fand auch den richtigen Ton, als er am Ende der Kostümparade um Ruhe bat: Das in schwarz gehaltene, mit Kerzen versehene Boot des Lichtenstein-Hauses wies mit einem Transparent auf die über 660.000 Menschen hin, die seit 1993 als Flüchtlinge im Meer ertrunken sind. An der Kostümparade nahmen neun Bootsbesatzungen teil. Zur Jury gehörte nicht nur Bernhard Feil, der Betreiber des Neuen Kunstmuseums, sondern auch drei Kinder: »Die drei hatten Lust drauf. Wir haben ihnen Smilie-Schilder gemacht, die sie hochhalten können«, sagte Jury-Mitglied und Mutter Kim Lierzer.
Ziemlich originell, letztlich aber chancenlos, waren die Zahnmedizinstudentinnen: Sie stellten sich zu einer lebendigen Zahnspange zusammen. Motto: »Ohne Lücke ins Ziel.« Doch die Konkurrenz war groß. Die AG Stuttgardia hatte für ihr Motto »Hawaii« gar einen künstlichen Vulkan auf ihren Kahn montiert. Der SSC Tübingen warf zum »Sommerfest« mit Lutscheis, Bonbons und Bananen – gewiefte Zuschauer auf der Neckarmauer drehten ihre (Sonnen-) Schirme um und fingen einiges davon auf. Den Kostümwettbewerb gewann jedoch der akademische Skiclub Tübingen mit seiner Interpretation von »Madagascar«, eines Animationsfilms.
Den Lebertran nicht drinbehalten
Das Rennen selbst entwickelte sich hinter dem Spitzentrio zu jenem Gerangel auf dem Wasser, das die Zuschauer erwarten und lieben. Disqualifikationen, die den Verzehr von 0,3 Liter Lebertran pro Bootsinsasse nach sich zogen, blieben selbstverständlich nicht aus.
Beim Corps Borussia wurde eine Person zu viel an Bord gezählt. Die Besatzung der Germania passierte das Nadelöhr ohne ihren Stocherer. Das Corps Schottland kam mit zwei Hälften einer Stake zurück. Und die vereinigte Crew des Studentendorfs WHO und der Hibuka kam eindeutig vom Kurs ab: Während der Umrundung des Pfeilers der Neckarbrücke geriet ihr Kahn auf der Gegenseite an die Mauer. Die größte Menge an Lebertran, ein halber Liter pro Besatzungsmitglied, ging an die Germania. Deren Mannen setzten die Krüge an, um kurz darauf die Enten zu füttern. Crewmitglied Benno Beckmann: »Darauf haben wir uns natürlich nicht vorbereitet!« (GEA)