TÜBINGEN. Wie steht es um die Solidarität mit Israel nach dem schrecklichen Terrorangriff der Hamas, der am 7. Oktober 2023 rund 1.200 Todesopfer forderte und dessen Geiseln teils noch heute in der Gewalt der Terrororganisation sind? Diese Frage beschäftigte rund 150 Teilnehmer beim »Marsch des Lebens« durch Tübingen. Sie alle einte die Furcht vor einer neuen Welle des Antisemitismus und der Judenfeindlichkeit, die inzwischen in Deutschland und Weltweit - auch befeuert durch die massiven Zerstörungen, die die israelische Armee seit der Terrortat im Gaza-Krieg verursachte - spürbar geworden sei. »Das wir hier heute in der Öffentlichkeit stehen, ist immens wichtig«, erklärte Markus Kalb, einer der Organisatoren des Demozuges in der Unistadt. »Wer heute schweigt, macht sich mitschuldig.«
Startpunkt war am Synagogenplatz, wo 1938 in der Reichsprogromnacht auch die Tübinger Synagoge in Flammen aufgegangen war. Dort erinnerte die Kulturwissenschaftlerin Michaela Buckel an die NS-Vergangenheit der Universitätsstadt. 1.600 Zwangsarbeiter gab es zu Kriegsende in der Stadt, nur einen Tag vor dem Einmarsch der Franzosen wurden zudem rund 10.000 KZ-Insassen in der Region, die im Rahmen des »Unternehmens Wüste« Öl aus Schiefergestein hätten herstellen sollen, auf einen Todesmarsch nach Dachau geschickt. »Das alles geschah unmittelbar vor den Augen der Bevölkerung. Aber darüber schwieg man«, berichtete Buckel.
Nach einem kurzen Demonstrationszug sprachen bei der Abschlusskundgebung auf dem Marktplatz unter anderem die Holocaust-Überlebende Mina Gampel sowie Gal Gilboa-Dalal, dessen Bruder Guy eines der Entführungsopfer ist, die sich noch immer in der Hand der Hamas befinden. Gal Gilboa-Dalal war mit seinem Bruder und Freunden auf dem Nova-Festival, überlebte selbst nur knapp. »Wir wurden von allen Seiten beschossen. Zwei unserer Freunde, ein junges Pärchen, die erst seit einer Woche zusammen waren, wurden getötet. Nach fast zehn Stunden wurde ich von unserer Armee gerettet - nur um dann zu erfahren, dass mein Bruder von der Hamas entführt wurde. Es hat mich völlig zerbrochen«, berichtete Gal Gilboa-Dalal, der von seinem Vater Ilan begleitet wurde. Vor einem Monat gab es dann ein erstes Lebenszeichen: Guy erschien auf einem Propagandavideo der Hamas, in dem er bei einer der zynischen Übergabezeremonien anderer Geiseln zusehen musste. »Ihn so zu sehen, macht mich hilflos. Aber nicht hoffnungslos«, erklärte Gal Gilboa-Dalal, der den Tübingern für das »Zeichen des Zusammenhalts« dankte.

Geschockt von jenem 7. Oktober zeigte sich auch Mina Gampel. 1940 geboren, musste sie in der Sowjetunion mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten fliehen, verlor dabei drei Brüder an »Hunger und Krankheit«. Seit dem Terrorangriff der Hamas sei die Situation für die Jüdinnen und Juden »einfach nur schlecht«, zu oft würden Narrative der Hamas auf fruchtbaren Boden stoßen. »Israel wurde brutal überfallen und viele unschuldige Menschen bestialisch ermordet«, stellte Gampel klar. »Hinter uns liegt eine schlimme Vergangenheit. Wir haben das schonmal erlebt. Und nun kommt alles wieder hoch.« Die Entwicklung mache ihr Angst, sagte die Künstlerin, die inzwischen in Stuttgart lebt. In Deutschland mache sich die AfD breit, erklärte die Holocaust-Überlebende und fragte: »Haben wir nichts aus der Vergangenheit gelernt?« Dennoch wolle sie positiv bleiben, so die 84-Jährige: »Ich hoffe immer noch, dass sich am Ende des Tages der gesunde Menschenverstand durchsetzt. Denn wenn die Hoffnung stirbt, stirbt alles.«
Dass Antisemitismus auch heute auf offener Straße ein Problem sei, berichtete ein junger Reutlinger jüdischen Glaubens. Mehrfach sei er auf der Straße angegangen worden, vor allem von Arabern, aber auch von einem Deutschen. »In Deutschland im Jahr 2025 verstecken alle meine Freunde ihre jüdische Identität«, erklärte der junge Mann. Dass sie nicht alleine stehen, zeigte der »Marsch des Lebens« in Tübingen. (GEA)