TÜBINGEN. Im Streit sticht ein 26-Jähriger in einer Steinlachgemeinde seinen Bruder nieder. Das Opfer wird schwer verletzt, überlebt nur durch eine Notoperation. Der psychische kranke Täter muss aber nicht in den Maßregelvollzug, sprich in ein psychiatrisches Krankenhaus. Der Grund: Der 26-Jährige hat in Notwehr gehandelt. So urteilte jedenfalls die Schwurgerichtskammer des Tübinger Landgerichts.
Eigentlich seien beide Brüder Opfer. Sie haben »eine schwierige Kindheit hinter sich«, wie der Vorsitzende Richter Armin Ernst meinte. Diese Kindheit sei geprägt gewesen von Gewalt und sexuellen Übergriffen. Der jüngere der Brüder zog deshalb schon im Alter von 14 Jahren aus der elterlichen Wohnung aus.
Schlimme Erfahrungen in der Kindheit
Die schlimmen Erfahrungen in der Kindheit haben beide nicht verarbeitet. Sie sind heute immer noch psychisch schwer angeschlagen, was man auch im Gerichtssaal miterleben konnte. Bei dem älteren Bruder, dem 26-jährigen Beschuldigten, diagnostizierte der psychiatrische Gutachter, Dr. Stephan Bork, »eine posttraumatische Belastungsstörung und eine dissoziative Identitätsstörung«. Der Jüngere erlitt während des Prozesses zweimal eine Art Anfall, wonach die Verhandlung jedes Mal kurz unterbrochen werden musste.
Die Vorgeschichte der Tat: Lange Zeit gingen sich die Brüder aus dem Weg. 2018 nahmen sie aber wieder Kontakt miteinander auf. Doch die gemeinsamen schrecklichen Kindheitserfahrungen haben die beiden nicht zusammengeschweißt, sondern eher entzweit. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern mit heftigen gegenseitigen Bedrohungen. Im November 2024 eskalierte die Situation.
Hinterhältiger Überfall
Richter Armin Ernst fand deutliche Worte für das Geschehen. Der 25-Jährige, das spätere Opfer, habe »einen hinterhältigen Überfall« auf den Bruder geplant, »um ihm eine Abreibung zu verpassen«. Dabei sei es auch nicht um eine »Respektschelle«, eine harte Ohrfeige, gegangen, sondern der 25-Jährige habe seinen Bruder krankenhausreif schlagen wollen, wie er selbst einmal bei der Polizei angegeben habe.
Am Abend des 16. November 2024 tauchte der 25-Jährige mit einem Kumpel bei seinem Bruder vor dessen Wohnung in einer Gemeinde im Steinlachtal auf. Sie lockten den 26-Jährigen vor die Tür. Nach Ansicht des Gerichts hatte sich der jüngere der beiden Brüder mit einem Schlagring bewaffnet und versteckt. Als der Ältere der beiden dann im Hof ankam, stürzte sich der 25-Jährige von hinten auf seinen Bruder. »Das war kein spontaner, sondern ein geplanter, zielgerichteter Angriff«, legte sich Ernst in der Urteilsbegründung fest.
Messer gezogen, um sich zu wehren
Der Angreifer hatte allerdings das Pech, dass im Augenblick der Attacke wegen eines Bewegungsmelders die Beleuchtung im Hof anging. Der Angegriffene drehte sich um und erkannte sofort die prekäre Situation. Es kam zu einem Gerangel, in dessen Verlauf nach Auffassung des Gerichts der jüngere Bruder den älteren in den Schwitzkasten nahm. In dieser Situation habe der 26-Jährige dann »das Messer gezogen, um sich zu wehren«.
Der Angegriffene habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als zuzustechen, um aus dieser gefährlichen Situation herauszukommen, so Ernst weiter. Der 26-Jährige habe mit einem »verhältnismäßigen Verteidigungswillen gehandelt«. Die Messerattacke sei deshalb »keine Anlasstat«, um den psychisch kranken 26-jährigen Beschuldigten wegen Schuldunfähigkeit im Maßregelvollzug unterzubringen.
Im Gerichtssaal
Gericht: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Julia Merkle, Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Sabine Ayen, Uwe Knorre. Staatsanwalt: Patrick Pomreinke. Verteidiger: Christian Niederhöfer. Nebenklagevertreterin: Julia Geprägs. Rechtsmedizin: Dr. Frank Wehner. Psychiatrischer Sachverständiger: Dr. Stephan Bork.
Ursprünglich war die Messerattacke von der Staatsanwaltschaft als versuchter Totschlag angeklagt worden. Wegen der psychischen Erkrankung des 26-Jährigen ging es in dem Prozess vor dem Tübinger Landgericht aber nicht um eine Haftstrafe, sondern um die Frage der Schuldunfähigkeit und die mögliche Unterbringung des 26-Jährigen in einem psychiatrischen Krankenhaus, was nun durch den Urteilsspruch entfällt. Wegen der zu Unrecht erlittenen Inhaftierung und der vorübergehenden Unterbringung in Bad Schussenried erhält der 26-Jährige eine Entschädigung.
Auch Staatsanwalt Patrick Pomreinke erkannte letztlich den Messerangriff als Notwehrhandlung und plädierte deshalb ebenfalls dafür, den Beschuldigten aus der vorläufigen Unterbringung zu entlassen. Der 26-Jährige habe nichts Rechtswidriges getan. Genauso sah es Verteidiger Christian Niederhöfer. Nebenklagevertreterin Julia Geprägs fasste das Verfahren treffend zusammen: Sie hoffe, dass nun »ein neues Kapitel für beide Brüder aufgeschlagen werden kann« und sie wünsche sich, dass »das Verhältnis zwischen beiden irgendwann einmal wieder besser wird«. (GEA)