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Aktuell Zwischennutzung

Tübinger Künstler finden in Reutlingen vorübergehend Unterschlupf

Die Tübinger »Gruppe 91« muss ihre Halle räumen. Wohin mit den Werken des verstorbenen Querbeet-Kreativen Herbert Rösler? Reutlingen bietet nun einen Hoffnungsschimmer.

Fest steht: Das Tübinger Künstlerkollektiv »Gruppe 91« muss die Halle mit dem Lebenswerk des Allround-Kreativen Herbert Rösler r
Fest steht: Das Tübinger Künstlerkollektiv »Gruppe 91« muss die Halle mit dem Lebenswerk des Allround-Kreativen Herbert Rösler räumen. Was daraus wird, ist noch ungewiss. Foto: Claudia Reicherter
Fest steht: Das Tübinger Künstlerkollektiv »Gruppe 91« muss die Halle mit dem Lebenswerk des Allround-Kreativen Herbert Rösler räumen. Was daraus wird, ist noch ungewiss.
Foto: Claudia Reicherter

TÜBINGEN/REUTLINGEN. Fünf Idealisten mit der Mission, das Erbe eines Künstlers zu retten, suchen eine neue Bleibe. Das Werk Herbert Röslers, der 2006 gestorben ist, besteht aber - grob geschätzt - aus mehreren tausend Ausstellungsstücken. Seine Grafik und Gemälde erinnern an Picasso, die Innenarchitektur an Hundertwasser und Niki de Saint Phalle, Stühle und Regale an Charles Rennie Mackintosh und Tinguely. Irgendwo stecken in dem Ganzen auch Anklänge an Heinz Macks und Otto Pienes Düsseldorfer Zero-Gruppe. Das künstlerische Schaffen des nach dem Zweiten Weltkrieg vom jungen Soldaten zum Pazifisten und vom Music-Biz-Designer zum gläubigen Menschen konvertierten Autodidakten war immens: Es umfasst auch Uhren, Schuhe, Mode, Schmuck, Dioramen, Instrumente und andere Performance-Requisiten.

Dazu schuf Rösler nach einem schweren Unfall noch Prosa und Lyrik, wobei die weniger Platz benötigen. Denn der Umfang ist das Problem am Nachlass dieses eigenwilligen Allround-Kreativen. Viele der anhand seiner Skizzen zum Teil als Gemeinschaftsarbeiten entstandenen Exponate hat die ihn umgebende »Gruppe 91« seit 1995 quasi zum Gesamtkunstwerk in der ehemaligen Panzerhalle am Stadtrand von Tübingen arrangiert. Seit mehr als einem Jahr steht aber fest: Dort müssen die verbliebenen Vereinsmitglieder raus. Mitsamt der Kunst. Doch wohin? Die Suche nach einer Ersatzimmobilie - oder alternativ nach einem investitionswilligen Millionär - brachte bislang keinen Erfolg. Eine Zwischennutzung in Reutlingen gibt jetzt Hoffnung.

Ausstellung eines Teils des umfangreichen Werks von »Gruppe 91«-Gründer Herbert Rösler im Innern der Tübinger G-91-Halle: Sie ve
Ausstellung eines Teils des umfangreichen Werks von »Gruppe 91«-Gründer Herbert Rösler im Innern der Tübinger G-91-Halle: Sie vereint Innenarchitektur, Mode-, Schmuck- und Schuhdesign, Grafik und Malerei. Foto: Claudia Reicherter
Ausstellung eines Teils des umfangreichen Werks von »Gruppe 91«-Gründer Herbert Rösler im Innern der Tübinger G-91-Halle: Sie vereint Innenarchitektur, Mode-, Schmuck- und Schuhdesign, Grafik und Malerei.
Foto: Claudia Reicherter

Gegründet wurde die einstige Hippie-Kommune 1968, benannt ist sie nach dem Kölner Bezirk 91, wo ihr Spiritus rector mit Frau und Kindern lebte. Nach einem Haus im Schwarzwald und einem Bauernhof am Bodensee hatten die überzeugten Christen seit 1983 in Tübingen unter anderem im alten Pferdestall der Thiepval-Kaserne ihre »Galerie an der Steinlach« eingerichtet. Seit 1995 haben die zupackenden Lebenskünstler die 1.200-Quadratmeter-Halle neben der B 28 Richtung Reutlingen in den G-91-Bau verwandelt. Mit Asphaltboden, auffällig bunten Fassadenelementen und der Botschaft »Für eine neue Welt« auf dem Dach. Drin befindet sich neben einem Ausstellungsareal ein »Glimmer-Kabinett«, eine Werkstatt, eine Art beheiztes Wohnzimmer und Lagerfläche.

Jedes Domizil hatte die altersbedingt heute auf fünf Aktive geschrumpfte Gruppe aufgemöbelt. Dennoch musste sie immer wieder weiterziehen. »Weil wir zu bunt waren«, sagt Linda Li (71), die sich Rösler gleich nach dem Abitur anschloss und als Künstlerin, Model und Sängerin tätig ist. »Zweimal haben wir versucht, mit der Industrie zu kooperieren, aber da hätten wir zu viele Kompromisse machen müssen.« Ein weiteres Problem: »Wir werden immer in die Sektenkiste gesteckt.« Kaum hatte Rösler in Tübingen seinen Glauben öffentlich gemacht, gingen die Besucherzahlen von 50 bis 100 pro Öffnungstag zurück.

Fünf Aktive halten die Halle in Schuss und versuchen das Erbe Herbert Röslers zu retten, von links sitzend seine Tochter Angela
Fünf Aktive halten die Halle in Schuss und versuchen das Erbe Herbert Röslers zu retten, von links sitzend seine Tochter Angela Rösler (70), Linda Li (71) und Dina Linicke (73); stehend Werner Witte (75) und Lucki Bazlen (68). Foto: Claudia Reicherter
Fünf Aktive halten die Halle in Schuss und versuchen das Erbe Herbert Röslers zu retten, von links sitzend seine Tochter Angela Rösler (70), Linda Li (71) und Dina Linicke (73); stehend Werner Witte (75) und Lucki Bazlen (68).
Foto: Claudia Reicherter

Zudem sind die antikapitalistischen Nonkonformisten nicht gerade finanzkräftig. »Das ist Liebes-Kunst, keine Geld-Kunst!«, betont Linda Li, die stellvertretende Vorsitzende des als förderwürdig anerkannten Vereins »Gruppe 91 Kulturproduktion Herbert Rösler«. Unter zehn Mitgliedern aktiv sind zudem noch die Tochter von Rösler und seiner ebenfalls schon verstorbenen Frau Ischabell, Angela Rösler (70), der Vorsitzende Werner Witte (75), Dina Linicke (73) und Lucki Bazlen (68). Alle genossen einst unterschiedliche Ausbildungen - Werner als Versicherungsvertreter, Dina als Programmiererin -, hätten sich dann aber anders entschieden. Für »einfache Berufe, die die Menschheit braucht«. Im Hospiz etwa oder bei der Tafel. Heute sind alle Rentner und finanzierten sich und ihr Projekt über private Einnahmen sowie Spenden.

Seit Röslers Tod versuchen sie, sein Werk zusammenzuhalten. Aus der Idee, es in eine Stiftung zu überführen, wurde nichts, da sie dafür »ein gesichertes Gebäude« bräuchten. Bereits seit 2000 ist bekannt, dass die G-91-Halle dem Schindhau-Basis-Tunnel für den B27/B28-Ausbau weichen soll. Und seit 2015 darf der größte Teil der Halle wegen Brandschutzauflagen nicht mehr für Führungen geöffnet werden.

Herbert Röslers Entwurf für ein »Café en plein air« auf dem Vorplatz der Thiepval-Kaserne in der Tübinger Südstadt.
Herbert Röslers Entwurf für ein »Café en plein air« auf dem Vorplatz der Thiepval-Kaserne in der Tübinger Südstadt. Foto: Claudia Reicherter
Herbert Röslers Entwurf für ein »Café en plein air« auf dem Vorplatz der Thiepval-Kaserne in der Tübinger Südstadt.
Foto: Claudia Reicherter

Im Januar 2024 hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) den Mietvertrag mit der Gruppe gekündigt. Kurz darauf erfuhren die G-91-Aktiven, ihr Domizil sei einsturzgefährdet. Das zweifle ein von der Gruppe 91 beauftragter Statiker allerdings an, berichtet Lucki Bazlen. Zuletzt kam ein Brief eines von der BIMA beauftragten Berliner Anwaltsbüros, das »die Kündigung des Mietverhältnisses, also den Räumungsanspruch« der Halle »klageweise durchsetzen« soll. Das Objekt solle »umgehend geräumt« und spätestens zum 31. März zurückgegeben werden. Ansonsten werde »Räumungs- und Zahlungsklage« eingereicht - verbunden mit dem Hinweis, dadurch entstünden »erhebliche Gerichts-, Rechtsanwalts- und Gerichtsvollzieherkosten«, welche die G-91-ler zu tragen hätten.

»Wir sind uns der Dringlichkeit bewusst, müssen aber passen«, schrieb Linda Li im Namen des Vereins zurück. Die Bewahrer dieses »Kulturerbe« bemühten sich weiterhin, »einen geeigneten und für uns bezahlbaren Platz« zu finden. Der ist bislang nicht in Sicht. Mit Bernd Feil vom Neuen Kunstmuseum Tübingen (NKT), das jüngst mit seiner aufsehenerregenden Ausstellung eines anderen aus dem Rahmen fallenden Nonkonformisten, Udo Lindenberg, eröffnet hat, sei sie in Verbindung - »der mag uns und unsere Kunst« -, mehr ergab sich daraus bislang aber nicht. Zudem schrieb sie nun den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und den Gemeinderat an. Mit der Bitte, das Mietverhältnis zu übernehmen, oder »für das Lebenswerk von Herbert Rösler ein Gebäude zur Verfügung« zu stellen. »Gibt es eine bezahlbare Ausweichmöglichkeit, sind wir sofort raus«, erklärt die 71-Jährige.

In der Unteren Gerberstraße 14 in Reutlingen findet die Gruppe 91 mit einer »Kleinen Galerie Herbert Rösler« vorübergehend Unter
In der Unteren Gerberstraße 14 in Reutlingen findet die Gruppe 91 mit einer »Kleinen Galerie Herbert Rösler« vorübergehend Unterschlupf. Foto: Claudia Reicherter
In der Unteren Gerberstraße 14 in Reutlingen findet die Gruppe 91 mit einer »Kleinen Galerie Herbert Rösler« vorübergehend Unterschlupf.
Foto: Claudia Reicherter

Ein Lichtblick bietet sich nun in der Nachbarstadt Reutlingen. Im Gerberviertel entsteht eine neue Galerie, in der sie ab 1. Mai vorübergehend 20 Bilder sowie Interieurs und Designobjekte zeigen. Als kleine Kunst- und Kulturschau »für eine neue Welt«. Aber als dauerhafte Lösung reichen die rund 100 Quadratmeter nicht. Den Glauben an ihre Sache lassen sich die Gruppe-91-Aktiven dennoch nicht nehmen. Dabei scheinen Linda Li und ihre allesamt über 70-jährigen Mitstreiter zwar chronisch optimistisch, aber nicht weltfremd. (GEA)