TÜBINGEN. Wohnen, Einkaufen, Bummeln: Wie bekommt man alles unter einen Hut? Händler müssen Lieferungen annehmen, Anwohner brauchen hin und wieder Zufahrts-Möglichkeiten, auch wenn sie kein eigenes Auto haben oder einen Stellplatz außerhalb der Altstadt. Handwerker sowieso. Spaziergänger und Touristen sollen sich wohlfühlen und möglichst wenig gestört werden. Im Rathaus weiß man, dass die Sache heikel ist und Konflikte nicht ausbleiben.
In den zurückliegenden Monaten haben die Planer Workshops veranstaltet, Gespräche mit Händlern und Anwohnern geführt und sind Stationen mit Betroffenen abgeschritten. Der Handels- und Gewerbeverein und die Dehoga als Vertretung der Gastronomen wurden frühzeitig einbezogen, versichert Verkehrsplaner Daniel Hammer. Alle Interessen sollen angemessen berücksichtigt werden. Corona und Online-Handel haben vielen Geschäften zu schaffen gemacht. Der Leerstand ist unübersehbar.
Viele Besucher haben den Eindruck, die Tübinger Altstadt sei insgesamt Fußgängerzone. Doch bisher ist tatsächlich nur ein kleiner Teil so ausgewiesen, insbesondere die Gegend um Marktplatz, Holzmarkt und Stadtmuseum. Jetzt soll die Ausdehnung von 2,2 Kilometern auf drei Kilometer erhöht werden. Diese Zahl ergibt sich, wenn man die Länge der betroffenen Straßen addiert, heißt es im Rathaus.
Wie in Freiburg will man einen Kern und eine umliegende Zone. »Die Regelung soll einfach und verständlich sein«, sagt Hammer und betont, dass man auf die Interessen der Beteiligten Rücksicht nimmt: »Wir wollen die Altstadt nicht zum Museum machen.«
Noch wird an Details für den Rahmenplan und die Verkehrskonzeption gebastelt. Erst im Mai wird der ausgearbeitete Vorschlag den Gemeinderäten vorgelegt. Doch klar ist, dass es abgestufte Zufahrtsregelungen geben wird. Die Fußgänger bekommen überall Vorrang, und mit dem Auto reinfahren sollen wirklich nur die, die ausreichend gute Gründe dafür haben.
Die Suche nach einem Parkplatz gehört nach Auffassung der Planer nicht dazu. Gegenwärtig gibt's immer noch ein paar Stellplätze, die Ortskundige immer wieder ansteuern in der Hoffnung, dass vielleicht gerade etwas für sie frei werden könnte. Zum Beispiel vor der katholischen Johanneskirche, beim Wilhelmsstift und bei der Jakobskirche. Will ein Auto dort durch, müssen Fußgänger ausweichen - und finden auf einer Seite nicht mal einen ordentlichen Gehweg. Die schmalen Gassen haben dort zum Teil keine echten Bürgersteige auf jeder Seite erlaubt, sondern nur »Schrammborde«. Die Fahrzeuge sollten damit so weit von den Häusern weggehalten werden, dass sie sie nicht streifen.
Ganz unbeliebt sind bei Fahrern von Lieferfahrzeugen Hindernisse, die man nicht umfahren kann. Gerne wird über »Schikanen« geschimpft, die sich weltfremde Bürokraten ausgedacht hätten. Doch Hammer betont, dass man sich im Tübinger Rathaus an den Erfordernissen orientiert und niemanden gängeln will. So seien zum Beispiel zunächst keine weiteren Poller vorgesehen. »Es sei denn, es entwickelt sich irgendwo unerwünschter Schleichverkehr.« An manchen Stellen gebe es sogar Erleichterungen für Handwerker und Lieferfahrzeuge. Die Hintere Grabenstraße ist so ein Fall. Sie ist bisher Einbahnstraße und soll künftig Autos in beide Richtungen durchlassen. Wer aus der Langen Gasse kommt, muss dann nicht mehr die große Schleife im Einbahnring um den Alten Botanischen Garten fahren.
Fest zu stehen scheint auch, dass Radler weiterhin auf den bisher freigegebenen Routen unterwegs sein dürfen, also auch in der belebten Kornhausstraße, in der an manchen Tagen auch Marktstände aufgestellt sind. Dort kommen Radler zwar Fußgängern ins Gehege, doch OB Boris Palmer hat vor fünf Jahren verfügt, dass es hier nicht mehr strikt »absteigen und schieben« heißt, sondern auf »Einsicht und Rücksichtnahme« gesetzt wird. Fahren im Schritt-Tempo ist dort erlaubt. (GEA)
Eine Tübinger Erfindung?
Manche behaupten, die Fußgängerzone sei so etwas wie eine Tübinger Erfindung. Fakt ist: Die Neckargasse wurde 1971 tagsüber für den Autoverkehr gesperrt und vier Jahre später zur ersten Fußgängerzone in der Bundesrepublik. (-jk)