TÜBINGEN. Deutschland braucht dringend mehr Fachkräfte. Pflegekräfte sind seit Jahren besonders gefragt, sie werden aus anderen Ländern abgeworben. Doch ist die Abwerbung von Arbeitskräften aus dem Gesundheitsbereich ethisch überhaupt vertretbar? Und was hat es mit dem Begriff Braindrain auf sich, der in diesem Zusammenhang oft fällt? Professor Jörg Baten von der Uni Tübingen ist Wirtschaftshistoriker und weiß: Fachkräftemigration ist nicht nur negativ.
GEA: Aus welchen Gründen gehen Fachkräfte ins Ausland?
Jörg Baten: Die wichtigste Motivation für die Wanderung von Fachkräften ist ein besseres Einkommen. Ebenso spielen allgemein bessere Lebensumstände, wie etwa größere Sicherheit im Alltag eine Rolle. Auch bessere Zukunftsperspektiven für die eigenen Kinder sind ein Anreiz.
In Zusammenhang mit Fachkräfteabwanderung fällt oft der Begriff »Braindrain«. Was versteht man darunter?
Baten: Braindrain bezeichnet die Abwanderung von Fachkräften in andere Länder, wodurch der Anteil an qualifizierten und hochqualifizierten Kräften im Herkunftsland geringer wird. Anders gesagt: Energiereiche und gut ausgebildete Brains, also Gehirne, wandern von einem Land zum andern und hinterlassen eine Lücke im Herkunftsland.

»Es gibt natürlich die primäre Wirkung, dass die abgewanderten Fachkräfte erst einmal fehlen«
Welche konkreten Auswirkungen hat dieser Braindrain auf das Herkunftsland der abgewanderten Fachkräfte?
Baten: Es gibt hier tatsächlich verschiedene Situationen und auch spannende Debatten. Aus historischer Betrachtung hat Deutschland ironischerweise davon profitiert, dass es im 19. Jahrhundert einen Braindrain Richtung England und den USA gab. Ein Teil der Deutschen ist zurückgekommen und hat hier wichtige Impulse für die hiesige Industrie- und Wirtschaftsentwicklung gegeben. Man beobachtet auch heutzutage, dass ausgewanderte Menschen durch die Arbeit in produktiven Unternehmen noch besser ausgebildet zurückkommen und dann in ihren Herkunftsländern wichtige Impulse geben. Andererseits gibt es natürlich die primäre Wirkung, dass die abgewanderten Fachkräfte erst einmal fehlen. Das ist in sehr vielen Ländern der Welt ein Problem, etwa in der Karibik, in Zentralamerika und in vielen afrikanischen Ländern.
Neben den positiven Rückkehreffekten und den negativen Braindrain-Effekten gibt es aber auch den für viele Länder sehr wichtigen Effekt der Rücküberweisungen. Menschen, die im Ausland arbeiten, senden dabei einen Teil ihres Einkommens an Familienmitglieder in ihren Heimatländern. Viele Länder leben zu einem wesentlichen Teil von Rücküberweisungen aus reicheren Ländern. Darüber hinaus ergeben sich aber auch wichtige Anreizeffekte und Entwicklungsimpulse: Dadurch, dass für hochqualifizierte Menschen die Möglichkeit der Migration existiert, investieren Menschen oft viel in die eigene Bildung. Dadurch steigen ihre Chancen auf einen guten Job im eigenen Land. Und sobald ein gutes Leben im Heimatland möglich ist, fallen meist auch die Gründe für eine Auswanderung weg.
Zur Person
Jörg Baten (Jahrgang 1965) ist seit 2001 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Uni Tübingen. Baten wurde bekannt mit seinen Arbeiten zur langfristigen Humankapital- und Lebensstandardentwicklung. Ein weiterer Schwepunkt seiner Forschung ist die Wohlstandsentwicklung und der Wachstum von Volkswirtschaften weltweit. Von 2006 bis 2012 war der gebürtige Hamburger Generalsekretär der International Economic History Association. (kali)
In Deutschland herrscht ein großer Mangel an Pflegekräften. Wir sind dadurch auf einen starken Zuzug von Pflegekräften aus dem Ausland angewiesen. Diese werden seit Jahren auch verstärkt aus anderen Ländern abgeworben. Ist eine Abwerbung von Fachkräften aus dem Pflegebereich vor dem Hintergrund des Braindrains ethisch überhaupt vertretbar?
Baten: Das ist in der Tat ein gewisses Dilemma. Man muss hier sicherstellen, dass die Fachkräfte in ihren Heimatländern nicht zu sehr fehlen. Ideal wäre das Modell der Global Skill Partnerschaften, wo man Pflegekräfte etwa nur temporär ins eigene Land holt, ihnen Weiterbildung garantiert und es vertraglich geregelt ist, dass sie nach einer gewissen Zeit wieder zurückkehren und in ihrem Herkunftsland Pflegeberufe ausüben. Das gilt als der Königsweg, ist aber nicht sehr attraktiv für die Länder, in denen die Pflegekräfte dann nur temporär beschäftigt sind. Ethisch einigermaßen vertretbar ist die Abwerbung nur dann, wenn kein Notstand an Pflegefachkräften in den Herkunftsländern herrscht. Das ist etwa in Ländern wie Philippinen oder Indonesien der Fall, wo zur Zeit viele ausgebildete Pflegekräfte keinen Job finden. Bei den Bemühungen der Bundesregierung, Fachkräfte im Pflegebereich abzuwerben, wird genau darauf geschaut, welche Länder keinen übermäßigen Mangel an Pflegefachkräften haben. Seit 2010 gibt es hier auch Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO, die versuchen, speziell die Migration und Abwerbung von Pflegefachkräften etwas abzufedern und entwicklungsverträglicher zu machen.
»Es ergeben sich aber auch wichtige Anreizeffekte und Entwicklungsimpulse«
In welchen Bereichen ist die Abwanderung von Fachkräften denn besonders dramatisch?
Baten: Die Abwanderung im Gesundheitsbereich ist weltweit tatsächlich am problematischsten, da hier viele Länder mit einer sehr dünnen Personallage zu kämpfen haben. In vielen afrikanischen Ländern haben wir pro 10.000 Einwohnern weniger als 10 Menschen, die dem Gesundheitspersonal zuzuordnen sind. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin aus Kamerun nach Großbritannien auswandert, ist das für die medizinische Versorgung in einem Land wie Kamerun ein großes Problem. Es gab hier auch eine Debatte in Fachjournalen, ob die Abwerbung hochqualifizierter Ärzte aus den ärmsten Ländern nicht als kriminelle Handlung gewertet werden sollte.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus der Debatte?
Baten: Fachkräftemigration ist nicht nur negativ, sollte jedoch ein gewisses Maß nicht überschreiten. Generell ist es aber ein normaler Vorgang, dass ein gewisser Teil der Fachkräfte dorthin wandert, wo die eigene Qualifikation am stärksten nachgefragt wird. Und auch gut bezahlt wird. (GEA)