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Tübinger Experte: Darum wandern Rentner nach Thailand aus

Wieso wandern so viele deutsche Rentner nach Thailand aus? Weil das Bier und der käufliche Sex dort so billig sind? Der Tübinger Kulturwissenschaftler Raphael Reichel hat es erforscht.

Touristiker bewerben Pattaya als Badeort. Aber die Stadt am Golf von Thailand gilt auch als Zentrum des Sextourismus.
Touristiker bewerben Pattaya als Badeort. Aber die Stadt am Golf von Thailand gilt auch als Zentrum des Sextourismus. Foto: Raphael Reichel
Touristiker bewerben Pattaya als Badeort. Aber die Stadt am Golf von Thailand gilt auch als Zentrum des Sextourismus.
Foto: Raphael Reichel

PATTAYA/TÜBINGEN. Mehrmals haben die Rentner Raphael Reichel eingeladen, sie ins Nachtleben der Küstenstadt Pattaya zu begleiten. Ob er nicht mit ihnen einen Massagesalon oder Go-Go-Club besuchen wolle? Mit dorthin gehen, wo junge Thailänderinnen Sex für Geld anbieten? »Dann siehst du mal, wie das so ist«, sagten die Rentner. Für viele von ihnen gehören solche Besuche zur gewohnten Abendgestaltung in ihrer Wahlheimat in Südostasien. Und Reichel wollte schließlich ganz genau wissen, was einen Ruhestand in Thailand für zahlreiche deutsche Männer so reizvoll macht.

Reichel, 36, hat für seine Doktorarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen untersucht, warum deutsche Rentner nach Thailand auswandern. Aufgefallen waren sie ihm schon als Kind auf Reisen mit seinen Eltern. »Man sieht sie am Flughafen, in der Stadt, in den Restaurants. Überall sind ältere allein reisende weiße Männer unterwegs.«

»Der größte Freilichtpuff der Welt«

Genaue Zahlen gibt es nicht, Schätzungen zufolge haben sich zwischen 10.000 und 60.000 deutsche Rentner in Thailand niedergelassen. Sie sind Stoff zahlreicher knallige Fernseh-Dokus. Deren Deutung geht oft so: In Thailand gibt es Palmenstrände und günstiges Bier, der Zugang zum Sexgewerbe ist niederschwellig, die Kontaktaufnahme zu jungen Frauen einfach – schon klar, dass es alleinstehenden deutschen Rentnern dort gefällt. Reichel fand diese Erklärung zu oberflächlich. Das Bier und den Sex könne man ja auch im Rahmen eines Urlaubs kriegen. »Viele der Rentner haben in Deutschland Haus und Auto verkauft, alle Zelte abgebrochen und sind an einen Ort gezogen, an dem sie fast niemanden kennen. Da muss ja vorher etwas passiert sein.«

Reichel forschte mehrere Monate in Pattaya. Die Stadt am Golf von Thailand gilt als modernes Sodom und Gomorrha, als Hotspot des Sextourismus, Deutsche vor Ort nennen sie den »größten Freilichtpuff der Welt«. Prostitution ist in Thailand zwar verboten, aber laut Reichel einer der größten Wirtschaftszweige des Landes. Bordelle heißen daher Bierbars, in denen Sexarbeiterinnen hinter dem Tresen Drinks ausschenken und dann mit aufs Stundenhotelzimmer gehen, oder Massagesalons, die Ähnliches versprechen. Gleichzeitig ist Pattaya ist das Zentrum der deutschen Rentner-Community in Thailand. In »Little Germany« gibt es deutsche Bäcker, deutsche Zeitungen, deutsche Gaststätten servieren Sauerbraten und Labskaus. In einem Begegnungszentrum für Deutsche hat Reichel Kontakte geknüpft und dann Ruhestandsmigranten interviewt. Seine Gesprächspartner waren Mitte 60, ehemalige Finanzbeamte, Bauunternehmer, Handwerker. Akademiker traf er kaum.

Tübinger Kulturwissenschaftler Raphael Reichel. Foto: Hirsch
Tübinger Kulturwissenschaftler Raphael Reichel. Foto: Hirsch
Tübinger Kulturwissenschaftler Raphael Reichel. Foto: Hirsch

Auch Rentnerinnen und deutsch-deutsche Ehepaare leben in Thailand, aber eher auf den Inseln. Das Land buhlt mit einem attraktiven Gesundheitssystem um sie: Ein Platz in einer Seniorenwohnanlage ist dort günstiger und mit einem besseren Pflegeschlüssel als in Deutschland zu bekommen.

In Pattaya scheint das Klischee erstmal so unzutreffend nicht. »Die allermeisten männlichen Rentner, die in Pattaya wohnen, sind zunächst als Sextouristen dorthin gekommen«, sagt Reichel. Dort tut sich ihnen eine andere Welt auf, weil der käufliche Sex nicht schambehaftet in Industriegebieten versteckt ist. »Wenn die Männer herkommen, merken sie: Ich kann mich hier austoben und sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ohne dass mich jemand komisch anguckt und ohne dass das extrem teuer wird«, sagt Reichel.

Wenn aus dem Sexurlaub ein Daueraufenthalt wird, ist häufig die Partnerschaft zu einer thailändischen Frau ein Grund. Nicht alle Beziehungen zwischen deutschen Rentnern und Thailänderinnen entstehen über Kontakte im Sexgewerbe. Doch viele der Beziehungen scheinen laut Reichel nach westlichen Maßstäben nicht gleichberechtigt, weil die Frauen sich wegen ihres prekären Hintergrunds darauf einlassen, damit der »Farang«, der weiße Mann, die Rechnung bezahlt, wenn der Kühlschrank seiner Schwiegereltern den Geist aufgibt.

Das Sexgewerbe prägt in Pattaya dia ganze Stadt. Go-Go-Clubs, Bierbars und massagesalons gibt es an jeder Ecke.
Das Sexgewerbe prägt in Pattaya dia ganze Stadt. Go-Go-Clubs, Bierbars und massagesalons gibt es an jeder Ecke. Foto: Raphael Reichel
Das Sexgewerbe prägt in Pattaya dia ganze Stadt. Go-Go-Clubs, Bierbars und massagesalons gibt es an jeder Ecke.
Foto: Raphael Reichel

Die Vorgeschichten der Rentner ähneln sich. Manche seien tragisch, sagt Reichel. Oft spielen Trennungen und Tod eine Rolle, viele der Männer haben erwachsene Kinder aus früheren Beziehungen, das Verhältnis zu ihnen ist häufig schwierig, das soziale Netz in Deutschland mehr durchlöchert als behütend, einige haben ihre Arbeit verloren, Firmen gingen pleite. Einer seiner Gesprächspartner fiel beim Streichen von einer Leiter, brach sich mehrere Knochen, lag lange im Krankenhaus, wurde frühverrentet, nahm starke Schmerzmittel, wurde impotent, seine Ehe scheiterte. Sein Physiotherapeut legte ihm einen Thailandaufenthalt nahe, weil das Klima gegen seine Beschwerden helfe. Er flog, blieb, fand wieder einen Job in der Gastronomie. Verletzungen und Zurückweisungen, die einige Rentner erlebt haben, kratzen laut Reichel an ihrem Bild von Männlichkeit. »In Thailand haben sie die Möglichkeit, sich noch einmal neu zu erfinden.« Wieder fitter werden, wieder den Versorger einer Frau geben statt in Deutschland Trübsal blasen. Dinge ausprobieren, von denen sie jahrelang träumten. Patriarchale Nostalgie nennt der Wissenschaftler dieses Konzept.

Die Rentneralltage in Pattaya sind unterschiedlich. Ein Gesprächspartner hatte ein Haus samt Garten und mehreren Autos davor. Andere leben in Wohnblocks, in Zimmern in Studentenbudengröße und mit Sanitäranlagen aus der Hölle, wieder andere in Anlagen mit Hotelcharakter, zu denen auch Pool und Zimmerservice gehören. Einige praktizieren einen ewigen Urlaub und hängen den ganzen Tag mit Gitarre im Liegestuhl ab. Viele sind überglücklich, weil die Sonne Südostasiens ihrer Gicht den Garaus macht.

Hohe Selbstmordrate

Manche schlittern in den Abgrund. Denn selbst wenn Sex und Alkohol in Pattaya viel günstiger sind als in Deutschland, geht der Konsum ins Geld, wenn man die Kontrolle verliert. Die Selbstmordrate unter deutschen Rentnern in Thailand sei hoch, sagt Reichel. Manche Auswanderer sprechen fließen Thai, konvertieren zum Buddhismus und beten mit ihrer Partnerin im Tempel. Andere verweigern die Hühnersuppe mit Reis, die Thais gerne frühstücken, essen ihre Käsebrötchen und hissen die Deutschlandflagge am Balkon. Der eine engagiert sich für thailändische Waisenkinder, der andere führt Strichliste, mit wie vielen Thailänderinnen er Sex hatte.

Teils äußerten sich Reichels Gesprächspartner rassistisch und sexistisch. Manche sprachen abfällig über die »Thai-Mädels« und »Nutten« oder prahlten mit Eroberungen. Ein Rentner erzählte, er sei auch ausgewandert, weil ihm in Deutschland zu viele integrationsunwillige Ausländer seien. Er wolle nicht länger in Biergärten nur noch Arabisch hören. »Während des Gesprächs saßen wir in einem Restaurant in Pattaya und um uns herum sprachen alle Thai«, sagt Reichel.

Allerdings: Cool war es schon, in Thailand zu forschen anstatt nur am Tübinger Institutsschreibtisch zu hocken. Die Einladungen der Rentner, sie in einschlägige Szeneläden zu begleiten, hat Reichel aber immer ausgeschlagen.

Das Buch

»Männerparadies – Deutsche Rentner in Thailand zwischen Nostalgie und Stigma« von Raphael Reichel ist im transcript Verlag erschienen. Es hat 314 Seiten und kostet 49 Euro.