TÜBINGEN. Links neben dem Eingang sitzt ein älterer Herr mit einer Tasse Kaffee, auf der rechten Seite gibt es Kuchen und Saftschorle. Hier sitzen Mama und Papa mit ihren zwei Kindern und genießen ihren Freitagnachmittag. Am Fenster haben es sich zwei Studenten gemütlich gemacht, die über ihrem Lernstoff brüten und dabei entspannt an ihrem Latte nippen. Das Publikum im Café Mehrrettich in der Neckarhalde 70 ist zweifellos vielfältig – kein Wunder, denn das außergewöhnliche Geschäftsmodell zieht Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen an.
»Getränke kaufen kann man hier im Grunde ab einem Cent«, bringt Johannes Weixel die Funktionsweise des Cafés mit dem Motto »Mehr-rett-ich« auf den Punkt. Seit Mai 2024 ist das Café ein Teil der Tübinger Weststadt und bereichert die Kultur - und Kulinarikszene ungemein. Vom Kaffee mit Hafer - oder Kuhmilch, über Saftschorlen und Hefeweizen: An Auswahl mangelt es in der schnuckeligen Lokalität sicher nicht. Der Twist dabei: Wie viel man für sein Getränk bezahlen möchte, entscheidet man selbst.
»Unsere Einnahmen sind ganz unterschiedlich - Johannes Weixel, Café Mehrrettich«
»Unsere Einnahmen sind dementsprechend ganz unterschiedlich«, sagt der 23-jährige Geographie-Student, der seit rund zweieinhalb Jahren am Café mitwirkt. »Manche kramen ihr Kleingeld heraus, andere bezahlen 10 Euro für ihren Kaffee und dann gibt es noch die große Mitte, die geben um die drei Euro«. Häufig seien vor allem Erstbesucher mit dem Preismodell überfordert. »Viele fragen nach einer Orientierung, aber wir geben bewusst keinen Richtwert vor, denn das würde dem Konzept widersprechen«, erklärt Weixel.
Er betont, dass niemand etwas falsch macht, egal welchen Betrag er oder sie gibt. »Manchmal ist es den Leuten unangenehm, wenn sie nur einen Euro dabei haben, und sie versichern, beim nächsten Mal mehr zu zahlen. Aber das ist für uns überhaupt kein Problem«, versichert der 23-Jährige. Ideal wäre es, wenn die Gäste darüber nachdenken, welche Kosten mit ihrem Besuch und Konsum verbunden sind und entsprechend bezahlen. Ganz nach dem Motto: »Ich gebe diesen Betrag, weil er notwendig ist, um das Café am Laufen zu halten.«
»Manchmal ist es den Leuten unangenehm, wenn sie nur einen Euro dabei haben - Johannes Weixel«
Natürlich stellt sich bei einem solchen Modell die Frage nach den Finanzen. Kurz gesagt: Lohnt sich das überhaupt? Schließlich müssen Kosten für Strom, Miete, Getränke und auch Personal gedeckt werden. Letzteres besteht im »Mehrrettich« aus zwei Gruppen: Ehrenamtlichen und Minijobbern, die für ihre Arbeitsstunden bezahlt werden. »Ohne die Ehrenamtlichen könnten wir den Betrieb nicht dauerhaft aufrechterhalten«, erklärt Weixel. Gleichzeitig sind die bezahlten Arbeitskräfte unverzichtbar, da die Kapazität der Freiwilligen nicht ausreicht, um die festgelegten Öffnungszeiten abzudecken.
»Der Betrieb finanziert sich durch die Einnahmen größtenteils selbst«, führt Johannes Weixel weiter aus. Den Cafébetrieb aufzunehmen, sei der erste Schritt gewesen. Nun kommt die finanzielle Tragfähigkeit dran. Was die angeht, »biegen wir gerade auf die Zielgerade ein«, erklärt der Tübinger Student. Zwar habe das Projekt zu Anfang große Investition nötig gemacht - schließlich erscheinen Kaffeemaschine und andere Gerätschaften nicht wie durch Zauberhand auf dem Tresen - doch durch Crowdfunding, Förderungen der Stadtwerke und des Sozialamtes, Spendengelder und weitere glückliche Gegebenheiten ist die Summe der noch ausstehenden Rückzahlungen auf 10.000 Euro gesunken. Seit Oktober 2024 läuft das Café im Durchschnitt kostendeckend - mal besser, mal schlechter. »Wir sind zuversichtlich, dass wir in Zukunft einen finanziellen Puffer aufbauen können, auch wenn das noch etwas dauern wird«, schätzt Weixel optimistisch.

Eine weitere Besonderheit macht - neben den frei wählbaren Preisen - die Lebensmittelrettung aus. Das Café Mehrrettich nutzt die Kooperation mit Food-Sharing, einem Verein, der noch genießbare Lebensmittel, die aufgrund gesetzlicher Vorgaben nicht mehr verkauft werden dürfen, vor der Tonne bewahrt. So können im Mehrrettich täglich kleine Leckereien angeboten werden - und das gratis. Das Angebot variiert - von Kuchen über Bananenbrot bis hin zu Laugenstangen - denn die Lebensmittel kommen direkt aus dem Food-Sharing-Pool. Als organisierter Verein ist Food-Sharing in ganz Deutschland und darüber hinaus vertreten.

Laut der Gesamtstatistik ihrer Website konnten bereits 2,2 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor der Tonne gerettet werden, rund 16.500 Betrieben kooperieren mit dem nachhaltigen Verein. Ein Großteil der geretteten Lebensmittel stammt von Supermärkten, Bäckereien oder Tankstellen in und um Tübingen. Aus Sorge, dass den kooperierenden Unternehmen wirtschaftlicher Schaden entstehen könnte, werden die genauen Namen der Partnerbetriebe jedoch nicht öffentlich gemacht.
»Der Betrieb finanziert sich durch die Einnahmen größtenteils selbst - Johannes Weixel«
Das Vorurteil, dass Food-Sharing-Lebensmittel schlecht oder gar unhygienisch seien, kann Johannes Weixler nicht betätigen. Das Essen werde ja nicht aus dem Container gefischt und dann im Café aufgetischt. »Auch wenn wir das schon mal so ähnlich gefragt wurden«, so der 23-Jährige schmunzelnd. Er betont, dass auch Food-Sharing klare Richtlinien hat, beispielsweise die Einhaltung von Kühlketten. Wer im Café Mehrrettich isst, kann sich also sicher sein, dass alles im Rahmen der Hygienevorschriften bleibt – und tut gleichzeitig etwas Gutes.
Das Ziel, einen Ort der sozialen Vielfalt zu schaffen, hat das Team des Café Mehrrettich bereits erreicht. Für die Zukunft wünschen sie sich nun noch, ihre Bildungs- und Kulturangebote weiter auszubauen zu können. »Dem konnten wir bisher noch nicht im gewünschten Umfang gerecht werden«, bedauert Weixel. Trotzdem zeigen die vielen Besucher, »die sich hier im Café einfach wohlfühlen«, dass das Konzept funktioniert und gern angenommen wird. (GEA)