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Tübinger Arzt arbeitet auch mit 90 Jahren noch in einer Praxis

Der Tübinger Mediziner Albrecht Kühn arbeitet weiter halbtags und sagt: »Die Arbeit hält mich fit im Kopf«.

Mediziner Dr. Albrecht Kühn. Von 1983 bis 2000 war er Vorsitzender der Kreisärzteschaft in Tübingen, jetzt ist er deren Ehrenvor
Mediziner Dr. Albrecht Kühn. Von 1983 bis 2000 war er Vorsitzender der Kreisärzteschaft in Tübingen, jetzt ist er deren Ehrenvorsitzender. Foto: Andreas Straub
Mediziner Dr. Albrecht Kühn. Von 1983 bis 2000 war er Vorsitzender der Kreisärzteschaft in Tübingen, jetzt ist er deren Ehrenvorsitzender.
Foto: Andreas Straub

TÜBINGEN. Im weißen Kittel sitzt Albrecht Kühn am Computer in seiner Praxis. Er sieht von der Patientenakte auf und lächelt. Er ist gut gelaunt, obwohl die IT-Systeme nicht reibungslos laufen. Der Arzt telefoniert mit mehreren Dienstleistern, bis alles wieder läuft.

Mit 90 Jahren arbeitet Kühn noch immer halbtags, unterstützt die Ärztin Irmgard Schneider. Er hat keine Kassenzulassung mehr, ist Seniorpartner in der Gemeinschaftspraxis. Wenn eine Sprechstundenhilfe ausfällt, arbeitet Albrecht Kühn auch einmal den ganzen Tag. »Meistens bin ich aber nach einem halben Tag müde«, sagt Kühn. »Die Arbeit hält mich im Kopf fit.«

Deshalb geht er jeden Tag in seine Praxis am Kelternplatz, wie schon seit 55 Jahren. Das gibt ihm Struktur und Halt, gleichzeitig wird er gebraucht. Kühn ist verheiratet, hat zwei Söhne (ebenfalls Ärzte) und vier Enkelkinder. Bergab bereiteten die Knie Schwierigkeiten, er braucht Hörgeräte und auch das Lesen ist durch Augenleiden schwer. Ansonsten ist Kühn rüstig, geht einmal wöchentlich 15 Kilometer auf der Alb wandern. »Früher war ich Bergsteiger, aber nach einer Knieoperation geht das nicht mehr«, sagt Kühn.

Zweiten Weltkrieg erlebt

In Tübingen mischt er sich nach wie vor in die Lokalpolitik ein, schreibt regelmäßig Leserbriefe. Er saß mit Unterbrechungen über zwanzig Jahre im Gemeinderat. Zuletzt war er bis 2015 Fraktionsvorsitzender der CDU. »Ich bin zurückgetreten, weil ich keine politische Leiche sein wollte«, sagt Kühn. Besonders in Erinnerung ist ihm das Parkhaus der Augenklinik. »Das habe ich zusammen mit den anderen Fraktionen gegen Palmer durchgebracht«, sagt Kühn. Gleiches gelte für die Sanierung des Aufgangs zum Österberg von der Neckarbrücke.

In Tübingen engagiert er sich für die Regionalstadtbahn, allerdings nicht durch die Mühlstraße. Im aktuellen Bundestagswahlkampf unterstützt Kühn den CDU-Kandidaten Christoph Naser. »Als Annette Widmann-Mauz ihren Rückzug angekündigt hat, habe ich ihn gleich ermutigt, zu kandidieren«, sagt Kühn. In den letzten Jahren habe sich gezeigt, dass der Weg in eine CO2-freie Wohlstandsgesellschaft schwieriger sei als von vielen erwartet und länger dauere. »Wenn sich Tübingen hohe Ziele steckt, nützt das außer dem Ehrgeiz von Herrn Palmer keinem etwas«, sagt Kühn. Denn die Temperaturen auf der Welt richteten sich nicht nach der schwäbischen Universitätsstadt, sondern eher nach China und den USA.

Er hat den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit in der DDR erlebt. Abitur mit 17, Examen und Promotion mit 23. Während des Medizinstudiums in Leipzig galt seine Leidenschaft der Chormusik und er war Teil eines semiprofessionellen Streichquartetts. Als junger Arzt ging er in die Bundesrepublik und absolvierte seine erste Pflichtassistenz (heute Arzt im Praktikum) in Mittelbaden. Seine Facharztausbildung führte ihn nach Westberlin und Tübingen.

Kühn war kardiologischer Oberarzt am Katharinenhospital in Stuttgart, bevor er sich 1969 in Tübingen niederließ, zuerst als Internist, dann als Hausarzt. Von 1983 bis 2000 war er Vorsitzender der Kreisärzteschaft in Tübingen, jetzt ist er deren Ehrenvorsitzender.

In der großen Politik sieht Kühn zu wenig Sinn für Verantwortung. Ob nun durch eigenes Verschulden oder durch Pech – wenn es schlecht laufe, müssten die Entscheidungsträger dafür geradestehen und zurücktreten. Deshalb versteht er nicht, dass Olaf Scholz erneut Bundeskanzler werden möchte. Und noch weniger, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck angesichts der miesen Wirtschaftslage ebenfalls als Kanzlerkandidat antritt.

Auch Fantasie gefragt

»Ich arbeite noch immer, weil es mich interessiert. Und um fit zu bleiben«, sagt Kühn. Wenn es täglich Probleme von Patienten zu lösen gebe, müsse sich das Hirn anstrengen. »Als Hausarzt ist nicht immer nur Schulmedizin, sondern manchmal auch Fantasie gefragt«, sagt Kühn. So seien viele Patientenbeschwerden nicht in Lehrbüchern zu finden. Als Beispiel führt er einen Mann an, der nach einer Operation an atypischen Schmerzen in einem vernarbten Bereich nach einer Operation litt. Eine Patientin litt durch ein Medikament an Kopfschmerzen. »Der Kardiologe von der Uniklinik hat darauf bestanden«, sagt Kühn. Er habe der Patientin gesagt, wenn sie das Mittel nicht nehme, sterbe sie. Kühn empfahl entgegen dem Rat des Professors ein anderes. Sie habe jetzt keine Kopfschmerzen mehr und es gehe ihr gut: »Aber setzen Sie das mal durch gegen den großen Professor aus der Klinik.«

Ein Problem der heutigen Gesellschaft sei, dass die Familien zerfallen. »Nicht erst, wenn es ums Erben geht«, sagt Kühn schmunzelnd. Er sehe es bei vielen Patienten, dass Söhne und Töchter nicht mehr mit ihren Eltern reden. »Die Selbstentwicklung ist ein egoistisches Thema«, sagt Kühn. Unabhängig von Verwandten, Bekannten und dem Staat zu sein, führe in die falsche Richtung. »Außerdem kollidiert der heutige Anspruch in der westlichen Welt an ein gutes Leben häufig mit der Umwelt«, sagt Kühn. Etwa die Hälfte seiner Patienten sind Migranten. Beispielsweise bei vielen Türken sei die Familie als »kleinste Zelle« der Gemeinschaft noch »hoch intakt.« (GEA)