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Tübingens OB Palmer: »Wir werden zu Tode reguliert«

Der Bürokratie-Dschungel in Deutschland wird immer dichter. Nicht nur die Bürger, auch Verwaltungen leiden darunter. Tübingens OB Boris Palmer findet klare Worte und ebenso skurrile Beispiele.

Tübingens Oberbürgermeister Palmer
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) steht vor dem Rathaus. Foto: Bernd Weißbrod/DPA
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) steht vor dem Rathaus.
Foto: Bernd Weißbrod/DPA

TÜBINGEN. »In vielen Teilbereichen ist das verträgliche Maß an Bürokratie längst überschritten«: Bereits im Oktober 2023 haben sich die Oberbürgermeister Boris Palmer (Tübingen), Matthias Klopfer (Esslingen) und Richard Arnold (Schwäbisch Gmünd) mit einem Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz gewandt, um ihm »quasi aus dem Maschinenraum der Republik zu veranschaulichen, wie absurd sich viele Vorschriften auswirken und einige Vorschläge zu unterbreiten, wie Bürokratieabbau gelingen kann«. Erarbeitet haben die drei ein Schriftwerk mit Beispielen von A bis Z, sie hätten dabei eine »strenge Auswahl getroffen« schreiben sie, »und konnten das Problem trotzdem nicht in weniger als elf Seiten beschreiben«.

Allein dies zeigt schon, welche Ausmaße bürokratische Vorschriften, Vorgaben, Regeln, Richtlinien und Gesetze angenommen haben. »Jeden Monat kommen neue Vorschriften dazu«, sagt Boris Palmer im Gespräch mit dem GEA, oft sei eine unsinniger als die andere. Manche muten dabei durchaus skurril an und es werden immer mehr. Von der Überprüfung privater Ladekabel in den Amtsstuben über verbindliche Vorgaben von Kartonstärken für Bewohnerparkausweise bis zu einer regelmäßigen Einweisung der Verwaltungsmitarbeiter in E-Fahrzeuge durch einen Experten: Es gibt nichts, das sich nicht in einer behördlichen Anweisung regeln lässt.

Darüber lachen können viele Verwaltungschefs schon lange nicht mehr, dazu ist die Lage zu ernst. »Das alles kostet Arbeitszeit und Geld«, sagt Palmer, »wir haben aber die Leute nicht und das Geld auch nicht«. Viele Verwaltungsmitarbeiter wünschen sich, einer sinnvollen Arbeit nachzugehen, statt sich mit Vorgaben von Land, Bund oder Europäischer Union herumschlagen zu müssen, dies sei »demotivierend«. Oft entscheiden sie sich dann für einen Jobwechsel, stellt Palmer bedauernd fest. Zudem werden dadurch viele Prozesse unnötig in die Länge gezogen. So gebe es im Bereich der Abfallverordnungen Vorschriften, die den Bau für die Bauherren teuer und langwierig machen, ohne dass ein wirklicher Nutzen entsteht. Gleiches gilt laut Palmer für die neue Vergabeordnung für Planungsleistungen: Ein solches Verfahren koste oft ein halbes Jahr und es komme nichts raus. Palmers Befürchtung angesichts des Bürokratiedschungels: »Wir werden zu Tode reguliert.«

Radikal mit der Axt ran

Was also tun? Zum einen »radikal mit der Axt ran«, rät der Tübinger OB und mit ihm viele seiner Kollegen. Ein erster, wichtiger Schritt in diese Richtung: »Der Gesetzgeber sollte Empfehlungen daraus machen, die rechtlich nicht verbindlich sein sollten.« Denn oft sind es Richtlinien, an die sich die untergeordneten Verwaltungen halten müssen. Eine Kann-Vorschrift wäre ein sinnvoller Weg, damit die Fachleute vor Ort auch mal entscheiden können, es anders zu machen. Hinter dem Denken, »je mehr reguliert wird, umso besser«, stecke oft eine gute Absicht, sagt Palmer. Aber in der Praxis ist sie oft ein Hemmnis, weil für die Gegebenheiten vor Ort eine andere Herangehensweise sinnvoller wäre. Auch hierzu haben die drei OBs ein Beispiel in ihrem Expose: So sind die Vorgaben in der Landesbauordnung Baden-Württemberg für fliegende Bauten derart gefasst, dass selbst Sommer-Lauben, die rein für sommerliche Weinfeste verwendet werden (wie in Esslingen der Fall), statisch und rechnerisch Schneelasten abbilden müssen. Das erhöht zum einen die Kosten für diese Verkaufshütten, zum anderen muss es von einem kommunalen Mitarbeiter kontrolliert werden.

Das Schloss Hohentübingen: Einer der sichersten Orte der Stadt. Doch wegen der »Normen für Fluchtwegbreiten« durften hier einige
Das Schloss Hohentübingen: Einer der sichersten Orte der Stadt. Doch wegen der »Normen für Fluchtwegbreiten« durften hier einige Zeit nicht einmal Klassikkonzerte stattfinden. Foto: Valentin Marquardt
Das Schloss Hohentübingen: Einer der sichersten Orte der Stadt. Doch wegen der »Normen für Fluchtwegbreiten« durften hier einige Zeit nicht einmal Klassikkonzerte stattfinden.
Foto: Valentin Marquardt

»Wir brauchen eine kommunale Abweichungskompetenz von den zigtausenden Vorschriften, Normen und Richtlinien, die kein Parlament je beschlossen hat«, heißt es in dem Brief an Kanzler Scholz. Viele Bürgermeister wünschen sich, dass den Entscheidern vor Ort der Rücken gestärkt wird und man ihnen Ermessensspielräume schafft - statt sie mit immer neuen Regelungen zu drangsalieren und zu strangulieren. »Wir gewählten Bürgermeister haben die Verantwortung und nehmen diese auch an«, verdeutlicht Palmer. Wobei klar sei, dass die Verantwortlichen vor Ort dann auch den Mut haben müssten, zu akzeptieren, »dass auch mal etwas schief geht«, sagt Palmer. Eine komplette Sicherheit könne es nicht geben, daher wäre es sinnvoller, »Risiken besser zu bewerten und Restrisiken als solche zu akzeptieren«, schreiben die Oberbürgermeister.

Komplexe Gesetzgebungslandschaft

Ein großes Hindernis für den Bürokratieabbau, auch das spricht Palmer deutlich an, ist »unsere extrem komplexe Gesetzgebungslandschaft«. Schließlich wirken EU, Bund und Länder oft zusammen, ergänzen oder übertrumpfen sich mit Vorgaben und Gesetzen. Der Nutzen für die Bürger und die Beamten vor Ort sei zweifelhaft. Ein weiteres Problem: »Wenn viele verantwortlich sind, ist es im Endeffekt keiner,« so Palmer.

Seit Sommer 2020 sind Kinderreisepässe nur noch ein Jahr gültig: eine Herausforderung für die Ämter.
Seit Sommer 2020 sind Kinderreisepässe nur noch ein Jahr gültig: eine Herausforderung für die Ämter. Foto: Daniel Karmann/dpa
Seit Sommer 2020 sind Kinderreisepässe nur noch ein Jahr gültig: eine Herausforderung für die Ämter.
Foto: Daniel Karmann/dpa

Was aber sagen denn nun die übergeordneten Behörden? Ministerpräsident Winfried Kretschmann habe in persönlichen Gesprächen zu der Thematik »durchaus Verständnis« für die Sorgen und Nöte der Oberbürger- und Bürgermeister, berichtet Palmer. Passieren tue aber dennoch nichts. Bundeskanzler Olaf Scholz habe den Oberbürgermeistern bis heute nicht auf ihren Brief geantwortet. »Das ist schon dreist«, findet Boris Palmer. Denn nur wenn die Bundesregierung die Probleme vor Ort kennt, kann sie reagieren. »Jeder Bürgermeister kann abendfüllende Geschichten über haarsträubende Auswirkungen von zu komplizierten und sinnlosen Vorschriften erzählen.« Das bringe aber nichts, wenn sich die Geschichten niemand anhöre, der etwas ändern kann.

Es muss sich etwas bewegen, das Dickicht der Bürokratie muss gelichtet werden - »so geht es nicht mehr weiter«, stellt Palmer klar. Noch können die oberen Behörden selbst etwas gestalten, andernfalls werde sich das Problem auf unkonventionelle Weise lösen, »weil einfach nicht mehr genug Leute da sind, die all die Vorschriften lesen, verstehen und anwenden könnten«, warnen die Oberbürgermeister. Damit, so Palmer, laufe sich das System tot. Und das wäre dann zum Schaden der Bürger, der Wirtschaft und der Demokratie. (GEA)

Beispiele: Die Regelungswut und ihre Auswüchse

Brandschutz: »Jeden Sinn für das reale Ausmaß von Gefahren haben die Vorschriften für Fluchtwege und Brandschutz in öffentlichen Gebäuden verloren«, schreiben die drei Oberbürgermeister. »Die Festung Hohentübingen gehört zu den sichersten Orten in der Stadt. Der Innenhof des Schlosses ist gekiest, brennen kann da nichts und ein Attentäter käme mit einem LKW nicht mal durch das Tor. Trotzdem wurden selbst Klassikkonzerte verboten.«

Eidechsenschutz: Für den Bau eines Hotels musste in Tübingen ein Eidechsenschutzzaun zwischen den Schotterflächen des Hauptbahnhofs und einer angrenzenden Straße errichtet werden. Der Zaun war vor dem Bau nicht notwendig und konnte nach der Fertigstellung wieder abgebaut werden. »Eidechsen müssen eben lernen, zwischen Baustellenverkehr, vor dem sie aufwändig geschützt werden, und normalem Straßenverkehr, an dem sie ungehindert teilnehmen dürfen, zu unterscheiden«, heißt es süffisant im Brief.

Lärmschutz: Anfang 2023 wurde in Tübingen ein neues Feuerwehrhaus eingeweiht. Zwischen den Parkplätzen der Feuerwehrleute und einer stark befahrenen Straße steht eine Lärmschutzwand. Sie war rechtlich zwingend notwendig, um die Wohnhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Lärm zu schützen. Dass die Anwohner kaum eine Chance haben, den Lärm des Parkplatzes wahrzunehmen, weil die mehr als 20.000 Fahrzeuge auf der Straße viel lauter sind, spielt dabei keine Rolle.

Kinderausweise: Während bis 2020 Kinderreisepässe sechs Jahre lang gültig waren, müssen diese inzwischen jedes Jahr erneut beantragt werden. Der Sicherheitsgewinn dürfte aber nahe Null liegen, denn Auslandsreisen von Kindern unter sechs Jahren ohne Eltern gibt es nicht und daher ist eine sichere Identifikation der Eltern durch deren Pass ausreichend.

Unfallverhütung: Oft ist der schiere Umfang der Vorschriften so unverhältnismäßig groß, dass es Menschen gar nicht möglich ist, sie im Alltag zu erfüllen. Allein die DGUV 70 zur Unfallverhütung im Betrieb von Fahrzeugen umfasst sage und schreibe 100 Seiten. Es gibt nahezu nichts, was dort nicht geregelt wird. »Allein mit der Erstellung dieser Gefährdungsbeurteilungen werden Millionen von Arbeitsstunden in Deutschland verschwendet«, so die drei OBs.