Logo
Aktuell Flucht

Syrer aus Nehren über seine Reise in die zerstörte Heimat

Der ehemalige Leiter des Nationalmuseums in Aleppo lebt in Nehren. Nach zwölf Jahren hat er nun Syrien besucht. Im GEA-Gespräch erzählt er, was er in seiner alten Heimat erlebt hat.

Die Zitadelle von Aleppo ist eine der ältesten Festungen der Welt und gehört zum Weltkulturerbe. Teile von ihr wurden während de
Die Zitadelle von Aleppo ist eine der ältesten Festungen der Welt und gehört zum Weltkulturerbe. Teile von ihr wurden während des Krieges und bei dem Erdbeben 2023 schwer beschädigt. Foto: Youssef Kanjou
Die Zitadelle von Aleppo ist eine der ältesten Festungen der Welt und gehört zum Weltkulturerbe. Teile von ihr wurden während des Krieges und bei dem Erdbeben 2023 schwer beschädigt.
Foto: Youssef Kanjou

TÜBINGEN/NEHREN. Es muss eine sehr bewegende Reise gewesen sein. Im Februar reiste Youssef Kanou für zwölf Tage nach Syrien. Zum ersten Mal sah er nach zwölf Jahren seine Mutter, seinen Bruder, Freunde und Arbeitskollegen wieder. Und zum ersten Mal stand er nach zwölf Jahren vor seiner alten Wirkungsstätte: dem Archäologischen Nationalmuseum von Aleppo.

Heute lebt der ehemalige Leiter des Museums mit Frau und fünf Kindern in Nehren. Er arbeitet am Institut für Kulturen des Alten Orients an der Uni Tübingen. Dort hat er keine unbefristete Stelle, sondern wird über zeitlich begrenzte Projekte finanziert. Dazu hat er einen Minijob bei Tünews International, das Online-Projekt für Geflüchtete im Landkreis Tübingen. Es gibt kein Wasser, keinen Strom. Die Lebensmittel sind teuerStundenlang sei er durch die Straßen seiner Heimatstadt Aleppo gelaufen. »Ich wollte alle wichtigen Dinge sehen«, erzählt der Archäologe von seiner Reise. Vieles sei zerstört in der ältesten Stadt der Welt. Aber: »Es gibt noch schöne Gebäude.« Teile des alten Bazars stehen noch, andere sind dem Erdboden gleich gemacht. Rund 30 bis 40 Prozent der Gebäude in der historischen Altstadt sind beschädigt, schätzt der Archäologe. Die moderne Stadt sei dagegen komplett kaputt.

Youssef Kanjou hat das Nationalmuseum in Aleppo bist 2013 geleitet, dann musste er fliehen. Jetzt arbeitet er an der Uni Tübinge
Youssef Kanjou hat das Nationalmuseum in Aleppo bist 2013 geleitet, dann musste er fliehen. Jetzt arbeitet er an der Uni Tübingen. Foto: Brigitte Gisel
Youssef Kanjou hat das Nationalmuseum in Aleppo bist 2013 geleitet, dann musste er fliehen. Jetzt arbeitet er an der Uni Tübingen.
Foto: Brigitte Gisel

Die Syrer sind glücklich über das Ende des Assad-Regimes, sagt Kanjou, aber von einem guten Leben sind sie noch meilenweit entfernt. »Die Wirtschaftslage ist schlecht. Es gibt kein Wasser, keinen Strom. Die Lebensmittel sind teuer.« Viele haben in den kalten Wintermonaten gefroren, weil sie keine Heizung hatten. Auch das Haus von Kanjou ist in Teilen zerstört. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wurde gestohlen.

Schockiert war der Wissenschaftler vom Zustand des Museums. Im gesamten Gebäude gibt es keine Fenster mehr. Wind und Wetter konnten ungehindert in die Ausstellungsräume eindringen. Im Keller steht Wasser. Dort sind 50 Prozent der Exponate untergebracht. Die anderen 50 Prozent lagern in Damaskus. Immerhin ist noch alles da, wenn auch nicht im besten Zustand. Diebstähle und Plünderungen hat es nicht gegeben. Mehr als 100.000 Objekte befanden sich einst in dem Museum. Große alte Sammlungen sind darunter. Exponate aus Babylon und dem alten syrischen Königreich. Fünf Abteilungen hatte das Museum. Die ältesten Exponate reichen in die Bronze- und Eisenzeit zurück. Die islamische und orientalische Geschichte wurde dort aufgearbeit. Auch die Antike war mit griechischen und römischen Ausstellungsstücken vertreten.

»Es gibt kein Wasser, keinen Strom. Die Lebensmittel sind teuer - Youssef Kanjou«

Während des Bürgerkrieges geriet das Museum zwischen die Fronten. 2011 haben Kanjou und seine Mitarbeiter einen Teil der Sammlung in einer Nacht-und Nebel-Aktion nach Damaskus gebracht. Als das Museum im Bürgerkrieg beschädigt wurde, übten Vertreter des Assad-Regimes Druck auf den Museumsleiter aus. Er sollte öffentlich behaupten, dass Regimegegner das Museum zerstört hätten. Das konnte Kanjou nicht, weil es die Unwahrheit gewesen wäre. Zusammen mit seiner Familie ergriff er 2013 die Flucht. Er fragte bei Kollegen in Japan und Deutschland nach. So kam die Familie zuerst nach Tokio. Der japanische Staat hatte ihm und seiner Familie die Einreise erlaubt. In Deutschland durfte er zuerst nur alleine einreisen.

Mittlerweile hat Kanjou die deutsche Staatsbürgerschaft. Mit dem deutschen Pass kann er nach dem Sturz des Assad-Regimes in sein altes Heimatland einreisen und wieder nach Deutschland zurückkehren. Wird er wieder ganz nach Syrien zurückkehren? Auf diese Frage reagiert er zögernd. Da gibt es den Archäologen Kanjou, dessen Herz immer noch an »seinem Museum« hängt und den es danach drängt, wieder in Aleppo auszugraben. Schließlich ist diese Stadt etwas ganz besonderes: Die ersten Spuren der Besiedlung stammen aus der Zeit 7.000 Jahre vor Christus. Keine Stadt der Welt ist älter. Viele Kulturen haben dort ihre Spuren hinterlassen. Multikulturell ist die Stadt bis heute: »Wir haben immer noch Kirchen, Moscheen und Synagogen«, erzählt Kanjou. Arabische, kurdische und christliche Menschen leben dort nach wie vor zusammen. Die Stadt sei immer noch sehr traditionell geprägt: »Es gibt Familien, die seit 500 Jahren dort leben.«

Die Ausstellungsräume des Nationalmuseums in Aleppo sind komplett zerstört.
Die Ausstellungsräume des Nationalmuseums in Aleppo sind komplett zerstört. Foto: Youssef Kanjou
Die Ausstellungsräume des Nationalmuseums in Aleppo sind komplett zerstört.
Foto: Youssef Kanjou

Der Archäologe Kanjou kann es sich also gut vorstellen, wieder zurückzukehren, sobald man in dem Land sicher leben kann. Allerdings gibt es da auch noch den Familienvater Kanjou. Vier der fünf Kinder gehen noch zur Schule. Seine älteste Tochter studiert in Tübingen. Nur zwei seiner Kinder kennen überhaupt Syrien. Die anderen drei wurden auf der Flucht geboren. Ihre Verwandten haben sie noch nie gesehen. Sie können nicht gut arabisch. Ein Schulwechsel in ein fremdes Land will Kanjou seinen Kinder nicht zumuten.

So wie ihm geht es womöglich vielen Syrern. Kanjou würde es begrüßen, wenn sie die Möglichkeit bekommen würden, ihr Land im ersten Schritt nur zu besuchen, um sich die Lage anzuschauen. Die Türkei biete diese Möglichkeit den syrischen Flüchtlingen, erzählt der Archäologe. »Alle möchten Syrien besuchen«, sagt er. Aber nur wenige haben sich in seinem Umfeld bisher dazu entschieden, wieder zurückzukehren. »Der größte Teil wartet ab.«

»Der größte Teil der Syrer wartet ab - Youssef Kanjou«

Das ist auch wenig verwunderlich: Sicher leben kann man derzeit in Syrien nicht. Das hat Kanjou mit eigenen Augen gesehen. Viele Menschen leben noch in Zelten. Die Schäden sind riesig, auch auf dem Land, die politische Lage derzeit noch instabil. Das alltägliche Leben unsicher. Die Menschen wünschen sich dort vor allem eines, sagt der Wissenschaftler: »Keinen Krieg mehr. Das ist das Wichtigste.« Sicherheit und Arbeit für die Menschen kommt als Nächstes. Und natürlich »eine bessere Regierung«.

Wie sich Syrien entwickelt, hänge aber nicht nur von der eigenen Regierung ab, sagt Kanjou, sondern auch von dem, wie sich internationale Kräfte verhalten. Ob sie es erlauben, dass sich das Land eigenständig entwickeln kann.

In all den Jahren auf der Flucht hat der ehemalige Museumsleiter nie aufgehört, Kontakt zu seinen Kollegen zu halten. Immer wieder haben sie sich in Beirut getroffen. Zum ersten Mal nun wieder in Aleppo. Zusammen mit einem Team hat er ihnen von Deutschland aus geholfen: Eine Datenbank für die gesamte Aleppo-Region wurde aufgebaut. Via Satellit wurden Fundstellen dokumentiert. Übers Internet schulten sie die syrischen Mitarbeiter im Fotografieren und Dokumentieren. Computer und Fotoapparate wurden ins Museum geschickt.

»Die wichtigen Sachen habe ich gesehen. Das nächste Mal will ich alles sehen - Youssef Kanjou«

Kanjou hofft sehr, dass das Museum irgendwann wieder geöffnet wird. Bisher fehlt es allerdings noch an allem. Schwerpunkt der derzeitigen Regierung liege in der Unterstützung im sozialen und wirtschaflichen Bereich. Die Kultur steht da nicht an erster Stelle. Entsprechend wenig verdienen die Museumsmitarbeiter derzeit, erzählt Kanjou. Umgerechnet 30 Euro sind es im Monat. Das reicht nicht zum Leben. Lebensmittel und Mieten sind teuer in Aleppo. So sind sie angewiesen auf Unterstützung von Verwandten in Deutschland.

Auch Kanjou greift seiner Familie finanziell unter die Arme. Die Mutter und der Bruder wohnen nicht mehr in der Stadt. Sie sind aufs Land geflohen. Für Kanjous Besuch kamen sie alle wieder in Aleppo zusammen.

Insgesamt zwölf bewegende Tage waren es für den Archäologen. Für den April war die nächste Reise schon gebucht. Zusammen mit Kollegen aus Berlin wollte er ein weiteres Mal nach Syrien reisen. Dann kamen die jüngsten Gewaltausbrüche zwischen Anhängern des Assad-Regimes und Truppen der neuen Regierung. Jetzt wartet er erst einmal ab, wie es weitergeht. Ganz gewiss ist aber, dass er bald wieder nach Aleppo reist. »Die wichtigen Sachen habe ich gesehen. Das nächste Mal will ich alles sehen.« (GEA)