TÜBINGEN. Allein sechs Läden, die Cannabis verkaufen, hat Prof. Dr. Benedikt Fischer in seinem direkten Wohnumfeld in Vancouver. Insgesamt 3.500 Läden sind es im gesamten Land. Der Mediziner ist zwar im Remstal geboren, lebt und arbeitet aber seit 30 Jahren in Kanada und hat dort die Legalisierung von Cannabis wissenschaftlich begleitet. Er sei »der internationale Experte auf diesem Gebiet«, sagt Anil Batra, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Tübinger Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Während in Berlin diskutiert wird, wie nach der Regierungsbildung mit der Droge umgegangen werden soll, berichtet Fischer bei den Tübinger Suchttherapietagen von den Erfahrungen aus Kanada.
Vor sechs Jahren wurde in Kanada Cannabis legalisiert. Damit seien der Konsum und die gesundheitlichen Probleme hochgegangen, sagte Fischer. Verbesserungen habe es dagegen im sozialen Bereich gegeben. Die Konsumenten werden nicht mehr kriminalisiert, sie sind nicht mehr auf den Schwarzmarkt angewiesen.
»Die Kommerzialisierung ist das Problem«
Die Auswirkung der Legalisierung ist also mehrschichtig. Ganz eindeutig ist für Fischer allerdings eines: »Die Kommerzialisierung ist das Problem.« In den Teilen Kanadas, in denen der Handel mit Cannabis frei ist, seien die Läden wie Pilze aus dem Boden geschossen. Gleiches fürchtet der Wissenschaftler auch für Deutschland, sollte die Abgabe nicht kontrolliert werden. »Wo führt das hin in einer Kultur, wo man so lax mit Alkohol und Tabak umgeht?«, fragt Fischer.
Tübinger Suchttherapietage
Die Tübinger Suchtherapietage werden von der Tübinger Uniklinik, Sektion Suchtmedizin und Suchtforschung, in Zusammenarbeit mit dem Baden-Württembergischen Landesverband für Prävention und Rehabilitation zum 29. Mal ausgerichtet. Mit 54 Referenden, 16 Symposien und 270 Teilnehmer ist sie eine der größten Tagung zu diesem Thema in Deutschland. Nur noch in Hamburg wird eine ähnlich große Tagung veranstaltet. Die Tage richten sich an ein Fachpublikum aus dem medizinischen und psychologischen Bereich. (iwa)
Der in Deutschland beschrittene Weg, Cannabis über Clubs abzugeben, findet der Mediziner interessant und würde ihn für die kommenden Jahre beibehalten. Vor der Kommerzialisierung warnte er dagegen ausdrücklich: »Wenn man diesen Geist aus der Flasche lässt, dann kann man ihn nie wieder zurückstopfen.« Die Industrie stehe schon lange in den Startlöchern. »Da geht es um jede Menge Geld.« Geschätzte eine Milliarde Euro im Jahr etwa, sagt Fischer. In Kanada mache der Cannabishandel immerhin 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Kein Weg sei es aber, die Legalisierung wieder zurückzudrehen. Damit würden die Konsumenten nur wieder in die Kriminalität abgeschoben. Er plädiert vielmehr für eine »kontrollierte, moderate Abgabe.«
»Die Cannabis-Potenz ist enorm nach oben gegangen«
Besorgt beobachtet er auch einen deutlichen Anstieg des THC-Gehalts in den Cannabisprodukten. Circa 80 Prozent der Produkte haben 20 Prozent THC oder mehr. »Die Potenz ist enorm nach oben gegangen.« Ein deutlicher THC-Anstieg beobachten die Psychologen auch auf dem hierzulande, sagt Sven Speerforck von der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig. In seiner Klinik seien deshalb schon Patienten mit Psychosen eingeliefert worden.
Dass der deutsche Weg durchaus Sinn macht, bestätigt Oliver Kaiser, Geschäftsführer des baden-württembergischen Landesverbandes für Prävention und Rehabilitation. Die Cannabis-Anbauvereinigungen müssen einen Präventionsbeauftragten benennen. In der Tübinger Drogenhilfe gibt es dafür mittlerweile Schulungen. Kaiser war bei einer mit dabei und ist auf Menschen aus der gesamten gesellschaftlichen Mitte gestoßen, denen die Prävention sehr am Herzen lag. Gelernt werde dabei unter anderem auch, wie mit dem Jugendschutz umzugehen ist.
Einig sind sich die Psychiater in einem Punkt: Weitaus gefährlicher für die Gesundheit als Cannabis ist Alkohol. Der ist aber gesellschaftlicher akzeptiert. Deutschland sei im Alkoholkonsum im europäischen Bereich immer noch an der Spitze, sagt Batra. Ganz ähnlich wie bei Tabak, gebe es da kaum Reglementierungen. Auch der Preis für beides sei im internationalen Vergleich niedrig. Das hat Auswirkungen: Die Rauchquoten bei Jugendlichen habe sich in den vergangenen Jahren verdoppelt, erzählt der Psychiater. Das liege unter anderem an neuen Produkten wie Vapes und E-Zigaretten. Auch bei Alkohol bleibe der Konsum bei Jugendlichen auf relativ hohem Niveau.
Die Cannabis-Legalisierung und ihre Auswirkung sind allerdings nur ein Thema bei den Suchttherapietagen. Der Leipziger Psychiater Speerfock beschäftigt sich mit der Stigmatisierung von Suchtkranken. Während sich die Einstellung gegenüber vielen psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft verbessert habe, gehe es bei Suchtkranken nach wie vor in erster Linie um Schuld. Das hat weitreichende Folgen für die Betroffenen und ihre Familien. Sie ziehen sich zurück, »entwickeln eine Wagenburgmentalität.«
Marc Vogel vom Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen in Basel beschäftigt sich dagegen mit dem Einsatz von psychedelischen Drogen als Medikamente. Vor allem bei therapieresistenten Depressionen wurden damit schon Erfolge erzielt, berichtet Vogel. Die Substanzen seien gut verträglich, wenn man sie im medizinischen Bereich einsetze. In der Schweiz, dort wo der Mediziner arbeitet, ist das möglich. In Deutschland sei eine derartige Behandlung dagegen nicht erlaubt, sagt Batra. (GEA)