TÜBINGEN. Anders als im Wahlkreis Reutlingen, landete im Wahlkreis Tübingen-Hechingen Das Bündnis 90/Die Grünen anstelle der AfD auf dem Silbertreppchen. In beiden Kreisen konnte aber die CDU die meisten Stimmen gewinnen. Im Wahlkreis Tübingen-Hechingen sicherte sich Christoph Naser (CDU) dabei 31,7 Prozent der Erststimmen, gefolgt von Asli Kücük (Grüne) mit 24,7 Prozent und Daniel Winkler (AfD) mit 15,6 Prozent. Florian Zarnetta (SPD) erreichte 13 Prozent, während Ralf Jaster (Linke) 6,2 Prozent und Julian Grünke (FDP) 3,7 Prozent erzielten. Bei den Zweitstimmen liegt die CDU ebenfalls vorne, gefolgt von den Grünen und der AfD. Doch wie kommt das Ergebnis in der Unistadt an?
»Das Wahlergebnis passt mir nicht so ganz, weil ich überhaupt nicht zur CDU tendiere,« äußert Claudia Bob ihre Unzufriedenheit. Die 75-Jährige aus Entringen findet, dass die CDU insgeheim nach rechts tendiert und damit bei vielen ihrer Wählern den Eindruck erweckt, man könne genauso gut die AfD wählen. Nach dem kürzlich heiß diskutierten, möglichen Fall der Brandmauer seitens der CDU vermutet sie zudem, dass viele Wähler nun von der CDU zur AfD gewechselt sind – und umgekehrt.
»Der Erfolg von CDU und AfD war ja keine Überraschung«
Etwas Positives kann sie über die Wahl aber doch noch sagen: »Es hat mich sehr gefreut, dass die Linke so gut abgeschnitten hat.« Die Zahlen der Grünen bewertet sie trotz leichter Einbußen als positiv - und wichtig: »Die Grünen greifen eben auch Themen auf, die unangenehm, aber wichtig sind, wie den Umweltschutz.« Deshalb würde sie sich nun ein großes Bündnis mit den Grünen oder der Linken wünschen. Eine rein rot-schwarze Regierung würde »alles wieder im alten Trott« enden lassen. Dabei müsste dringend gehandelt werden, vor allem was die Wohnungsnot anbelangt. »Die Leute, die nicht so viel Geld haben, sind da oft im Nachteil.« Sie plädiert für einen Mittelweg: »Man kann nicht nur Umweltschutz und Energie an vorderste Stelle setzen«.
Während Emily (23) in diesem Jahr aus »Zeitgründen« nicht gewählt hat, durfte Hannah (21) gar nicht erst ran. Die 21-Jährige hat die belgische Staatsbürgerschaft und ist damit nicht wahlberechtigt. Eine Meinung hat sie trotzdem und findet das Ergebnis der Wahl »nicht so dolle«. Sie habe bis zuletzt die Hoffnung gehabt, dass es nicht so kommt. Damit meint sie die starken Zahlen der CDU, aber vor allem den Zuwachs, den die AfD verzeichnen konnte. Emily wirft ein, dass der Erfolg von CDU und AfD »ja keine Überraschung gewesen« ist. Nicht etwa, weil sie viele entsprechende Wähler aus ihrem persönlichen Umkreis kenne, sondern weil sie das Gefühl habe, das diese Stimmen aus Protest und Unzufriedenheit herrühren. Für die beiden jungen Frauen das wichtigste und dringendste Thema: der Umweltschutz.
Zufrieden mit dem Wahlergebnis? »Auf gar keinen Fall«, sagt Lydia Roknic mit einem Lachen auf den Lippen, das eher aus der Verzweiflung herrührt als von Freude. Dass so viele junge Menschen sich für die AfD entschieden haben - 21 Prozent der 18-24 Jährigen wählten diese Partei - findet sie ebenso problematisch, wie den mit großer Wahrscheinlichkeit neuen deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz - gerade als Frau. »Er ist einfach der alte weiße Mann, der nun vermutlich an die Regierung kommt, und ich finde er spricht auch genauso«, so die 34-Jährige. Sauer aufgestoßen ist ihr die Thematik von »Mein Körper, meine Entscheidung«. »Er hat in den letzten Wochen gezeigt, dass er das nicht ernst nimmt.«
Anja Brugger aus Heilbronn ist am Montag nach der Wahl dienstlich in Tübingen unterwegs ist. Das Wahlergebnis bezeichnet sie als »sehr schwierig«. Sie sei aber erleichtert, dass die AfD zumindest nicht die 25-Prozent-Marke erreicht hat, dennoch seien 20 Prozent viel. Dieser Erfolg war ihrer Meinung nach zwar absehbar, sie kann jedoch nicht nachvollziehen, warum Menschen die AfD wählen.
»Bei den Kanzlerkandidaten ist keiner dabei, von dem ich sagen würde, der ist eine Führungspersönlichkeit«
Ihre Antwort auf die Frage nach einem geeigneten Kanzlerkandidaten bedarf nicht vieler Worte: »Tatsächlich keiner von denen. Es ist niemand dabei, von dem ich sagen würde, der ist eine Führungspersönlichkeit«. Alle seien zwar erprobte Politiker, aber es fehle ihnen die Vision, wohin sich das Ganze in zehn Jahren entwickeln soll. Ihre Koalitionspräferenz? Die Große Koalition (kurz: GroKo) weil sie ihrer Ansicht nach am ehesten den gesellschaftlichen Konsens abbildet. Ob die GroKo oder doch eine andere: Die künftige Regierung müsse sich jedenfalls dringend um eines bemühen - ein neues transatlantische Verhältnis. Dieses betreffe uns auf mehreren Ebenen, nicht nur wirtschaftlich. »Wenn die EU im besten Fall nur noch ein Juniorpartner für Amerika werden würde, dann würde das Vieles verändern«, so die 41-Jährige. Sie hält es für äußerst wichtig, dass man Donald Trump nicht noch mehr Vorsprung gibt.
Fabio Righi aus Bad Urach findet klare Worte zum Ausgang der Wahl: »Ich finde es scheiße. Und es ist beängstigend, dass jeder Fünfte für Blau gestimmt hat. Wir haben Glück, dass die CDU koalitionstechnisch nicht mit der AfD in Kontakt treten möchte«. In seinem Umfeld spiegelt sich das Ergebnis nicht unbedingt wider – seine Freunde tendieren eher zu den Linken oder zur FDP – aber in ländlichen Regionen wie seiner Heimat Bad Urach seien AfD-Sympathien weit verbreitet.
Dass die FDP die Fünf-Prozent-Hürde nicht geschafft hat, bedauert er, auch wenn er versteht, dass sich Christian Lindner in den letzten Jahren nicht unbedingt Freunde gemacht hat. Righis Wunsch wäre eine große Koalition, auch wenn das die Regierungsbildung komplizierter macht. Zwischen den Grünen und den Linken würde er die Grünen bevorzugen, obwohl es auch bei ihnen Punkte gibt, mit denen er nicht einverstanden ist. Bei den Linken vermisst er die konkrete Umsetzbarkeit ihrer Pläne, auch in finanzieller Hinsicht.
Für ihn ganz oben auf der Liste der Aufgaben: Regelungen für mehr Gemeinsamkeit zu finden, um der Spaltung der Bevölkerung entgegenzuwirken. »Dafür muss man das ganze Bild sehen, es schwinge nicht nur ein Ding mit«. Ein erster Ansatz wäre für Gleichberechtigung zu sorgen. Righi, der selbst einen Migrationshintergrund hat, habe in der Vergangenheit mit vielen Asylbewerbern gesprochen. Als beispielsweise der Ukraine-Krieg ausgebrochen ist, wurden die ukrainischen Geflüchteten gegenüber den Menschen aus Syrien bevorzugt, zum Beispiel was die Teilnahme an Deutschkursen angeht. »Ich finde, das geht einfach nicht«. (GEA)