KIRCHENTELLINSFURT. Kinder üben Rückwärtssalto ins Wasser. Badegäste und Sonnenhungrige haben auf der Liegewiese ihre Decken und Badetücher ausgebreitet und schauen neugierig, was sich nebendran tut, wo sich Besucher unter weißen Schirmen niederlassen. Clemens Vohrer lädt noch schnell eine Wanne voll Eis aus dem Auto und schafft es vom Parkplatz zum Kiosk. Dienstagabend am Baggersee Kirchentellinsfurt: Start mit geladenen Gästen in eine Zukunft mit Service und Verpflegung – ganz offiziell.
Seit Anfang Mai ist die Gastro-Familie Vohrer mit Bänken, Tischen, Sonnenschirmen und einer kleinen Getränke-Bar am Baggersee. Das Provisorium auf dem westlichen Teil der Liegewiese hat viele positive Reaktionen bei Badegästen und vorbeikommenden Radfahrern hervorgerufen. Auch ein kleiner Streifen mit Sandstrand und Liegestühlen schien ganz nach dem Geschmack vieler Besucher.
Alles mit Stil
Doch das Provisorium weiter hinten auf dem Gelände ist jetzt Vergangenheit. Direkt nach der Parkplatz-Unterführung steht ein Kiosk, davor ein Biergarten. Ein paar Meter weiter befinden sich zwei Boulebahnen. Und Radler müssen ihre Drahtesel nicht mehr irgendwo auf der Liegewiese abstellen, sondern finden Fahrradständer entlang des Neckartalradwegs.
»Eine stramme Leistung« attestierte Regierungspräsident Klaus Tappeser den Betreibern und sieht lauter Gewinner. Die Aufgabe sei alles andere als einfach gewesen, doch der Kiosk und die weiteren Bestandteile der Anlage fügten sich in die Landschaft ein. »Die Menschen haben was davon – und es hat alles Stil.«
K’ufer steht als Schriftzug an vielen Stellen. Angelehnt an K’furt, wie manche der nicht Alteingesessenen den langen Ortsnamen Kirchentellinsfurt abkürzen. Für etliche Gäste der offiziellen Eröffnung klang das noch etwas ungewohnt, soll sich aber auf Dauer durchsetzen.
Eine Freizeit-Oase wollen Clemens und Vildana Vohrer den Besuchern bieten. So haben sie es im Mai beim provisorischen Start verkündet. Familienfreundlich, wie sie am Dienstag noch einmal betonten. »In Rekordzeit bei Rekordhitze« hat man jetzt mit Hilfe vieler Beteiligter die Pläne umgesetzt. Ein paar Restarbeiten sind noch zu erledigen.
Mehrmals zurück auf Anfang
Bernd Haug sprach von einem »schönen Tag für Kirchentellinsfurt«. Der Bürgermeister richtete den Blick zurück auf einige Stationen der »unglaublichen Geschichte eines kleinen Stückchens Erde«. Mehrmals hatte es für die Gemeinde geheißen: »Alles auf Anfang beim Baggersee«. Doch dann tauchten die Vohrers auf, die auch den Kiosk am Wasserfall in Bad Urach betreiben. Und gemeinsam sei es gelungen, alle Interessen in Einklang zu bringen. Angler, Segler, Naturliebhaber, Schwimmer und Badegäste dürften mit der Lösung sehr zufrieden sein, ist Haug überzeugt. Und anders als von einem Gutachter vor vielen Jahren vorhergesagt, sei die Wasserqualität hervorragend.
BAGGERSEE – EINE KURZE CHRONIK
Hotel, Strandbad, Wakeboard-Anlage? Stattdessen Kiosk und Biergarten
1929 startet die Kiesbaggerei, die erst 1984 eingestellt wird. Der See ist 1,2 Kilometer lang und an der breitesten Stelle 250 Meter breit. In den 1970er-Jahren können Besucher mit dem Auto noch unmittelbar bis ans Ufer fahren. Verschiedene Pläne der Nutzung werden verworfen. Gegen einen möglichen Hotelbau erhebt sich Protest. Pläne für ein Strandbad werden nicht weiter verfolgt, nachdem ein Gutachter zu dem Schluss gekommen ist, dass die Wasserqualität schlechter wird und der See 2010 umkippt. Eine Umfrage 2012 ergibt: Die Kirchentellinsfurter wünschen sich eine saubere Liegewiese, Toiletten, einen Kiosk und einen schöneren Zugang. 2016 meldet sich ein Interessent, der eine Wakeboard-Anlage realisieren will. 2017 startet die Gemeinde ein Bebauungsplanverfahren, um zu regeln, was in den einzelnen Zonen in und auf dem Baggersee erlaubt sein soll. 2017 beauftragt die Gemeinde einen Security-Service, der nach dem Rechten schauen soll. Viele stören sich am Männer-Treff auf dem Parkplatz und an anderen Stellen. Die Bild-Zeitung titelt: "Wir sind die Sex-Polizei vom Anbaggersee". 2019: Ein neuer Pachtvertrag kommt nicht zustande. Die Gemeinde übergibt die Verantwortung für den Badebetrieb an die Eigentümer. Der Fischereiverein Reutlingen kauft 2020 die Epple GmbH & Co. KG und wird damit neuer Eigentümer. 2021: Gastro-Vohrer fragt im Rathaus an, ob es am Baggersee die Möglichkeit gibt, einen Kiosk zu eröffnen und rennt offene Türen ein. Alle Beteiligten einigen sich. (-jk)
Auch Gerd Schwarz vom Fischereiverein hält die Übereinkunft für sehr positiv. Seit dem Erwerb der Epple GmbH habe man lange gerungen. Für die Angler stand fest: Der See soll wie bisher genutzt werden. Eine Wakeboard-Anlage kam für die neuen Eigentümer nicht infrage. Sie wäre unter anderem als Bedrohung für die Schilfzone aufgefasst worden, die für den Fischnachwuchs so wichtig ist.
Der Kauf Anfang 2020 war nach Einschätzung des Geschäftsführers ein Glücksfall. Die Angler seien naturverbundene Menschen, die sich um die Tier- und Pflanzenwelt kümmern und denen Artenvielfalt am Herzen liegt. Die Pflege ist aufwendig, aber die Mitglieder scheuen vor Anstrengungen nicht zurück. Allein seit Oktober 2021 haben sie 1 500 Arbeitsstunden am See zugebracht und dabei unter anderem zwei Badetreppen für den Ein- und Ausstieg angebracht. Unter den 130 geladenen Gästen wurde gesammelt: Für Hilfsprojekte in der Ukraine. (GEA)