TÜBINGEN. Recht unscheinbar steht er zunächst da, der G91 Bau an der Tübinger Ortseinfahrt aus Richtung Reutlingen kommend. Doch je näher man kommt, desto deutlicher wird: Hier geht es bunt zu. »Für eine neue Welt« lässt sich aus der Vogelperspektive auf dem Dach des Baus erkennen. Nach diesem Motto lebt und arbeitet die auffällige Künstlergruppe G91, zumindest noch so lang, wie sie dem Kampf um den Erhalt ihres Kunstangebots noch standhalten können.
Die Gruppe 91 wurde 1968 von Herbert Rösler in Köln gegründet. »Abgesehen von Herbert waren die meisten von uns damals suchende Jugendliche«, schreibt Mitglied Linda Li in ihrer Online-Biografie. Aus allen Ecken Deutschlands seien die Mitglieder »auf wunderbare Weise zusammengeführt worden« und verbringen seither jeden Tag gemeinsam – sie leben und arbeiten zusammen. Seit 1995 tun sie dies in Tübingen.
»Im Hofbereich sind mehrere Stützfüße massiv verrostet«
Damals mietete die kleine Kommune den heutigen G91 Bau an, mit der Absicht, ihre Dekomaterialien unterzubringen. Nach viel Arbeit und Investitionen war 1998 aus der rostigen Halle ein Heim für die bekannte Künstlergruppe und ihre Ausstellung geworden. Jene Heimat blickt nun einem Abriss entgegen: Im März 2024 wurde das Gebäude von Gutachtern der Stadt Tübingen und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) als einsturzgefährdet eingestuft. Nur einen Monat zuvor hatte die BIMA der G91 den Mietvertrag gekündigt, »um allen Beteiligten wieder Rechtssicherheit zu geben«, erklärt Christiane Worring, Pressesprecherin der BIMA. Der Vertrag sei bis dato nämlich noch immer auf den 2006 verstorbenen Gründer der Gruppe, Herbert Rösler, gelaufen.
»Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Standsicherheit der Halle nicht mehr gegeben ist. Im Hofbereich sind mehrere Stützfüße massiv verrostet«. Seitdem ist das Gelände für Besucher gesperrt, die Ausstellung bleibt unbesucht. Linda Li, Mitglied der Gruppe, hält das Vorgehen für übertrieben und »völligen Quatsch«. Sie beauftragte kurzerhand einen eigenen Statiker, um die Situation neu bewerten zu lassen.
Der von der Gruppe 91 beauftragte Statiker bestätigte zwar grundlegende Mängel an der Halle, sah jedoch keine unmittelbare Einsturzgefahr. Trotzdem, so erzählt Linda Li frustriert, hätten sachliche Einwände nichts mehr bewirkt, und »die Reparaturen unseres Statikers wurden völlig ignoriert.« Die von der BIMA in Auftrag gegebenen, vom staatlichen Hochbauamt Stuttgart durchgeführten Sicherungsmaßnahmen, sind für eine dauerhafte Nutzung nicht ausgelegt. Absichten das Gebäude sanieren zu lassen, gibt es nicht. Dies sei aufgrund der langfristigen Nutzungspläne der Liegenschaft für das geplante Infrastrukturprojekt »Schindhau-Basistunnel B27/B28«, welches einen Abriss der Halle bedingt, wirtschaftlich nicht darstellbar.
Schon beim Einzug in die Halle war der Gruppe klar, dass die Infrastrukturpläne rund um die B27 auch ihren Standort betreffen könnten. »Natürlich, wir saßen auf einem Pulverfass«, sagt Linda Li. Daher blieb die Kunstausstellung von Anfang an eher provisorisch. Doch 30 Jahre später sind die Baupläne noch immer nicht umgesetzt, und nun soll die Halle plötzlich einsturzgefährdet sein? Li zeigt sich skeptisch: »Wenn man nach den strengen Kriterien für Brandschutz gehen würde, müsste man die halbe Altstadt abreißen. Aber davon will niemand etwas hören. Das ist doch scheinheilig.«
»Wie man mit uns umgeht, das ist reine Schikane«
Die Gruppe fühlt sich von der Stadt Tübingen und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben im Stich gelassen und ungerecht behandelt. »Am liebsten würden die uns einfach auf den Mars schicken«, so die 71-Jährige. Dabei sei die Gruppe 91 den Menschen in Tübingen und Umgebung durchaus ein Begriff – und oft sogar ein liebevoller. Die Künstler vermuten, dass es den Verantwortlichen in Wirklichkeit nur um das Finanzielle geht. »Die Stadt weiß genau, dass jeder Quadratmeter Geld bringt, und wir bringen da wahrscheinlich zu wenig«, so Li. »Für Kunst haben sie nichts übrig. Wie man mit uns umgeht, das ist reine Schikane.«
Den Leuten sei - so die Meinung der Gruppe - noch nicht klar geworden, worum es geht und was sie platt machen wollen. Die Stadt findet dafür jedoch klare Worte: »Die Stadtverwaltung Tübingen hat sich mehrfach und immer wieder mit der Gruppe G91 beschäftigt. Den Nachlass Röslers beurteilen wir anders als die Gruppe selbst und sehen eher einen kulturhistorischen Wert als ein einzigartig künstlerisches Oeuvre.«
»Ganze Gebäude zu erhalten, wenn sie in einem so schlechten Zustand sind, ist auch in besseren Zeiten der Kommunalhaushalte finanziell nicht darstellbar«
Künstlerische Nachlässe seien weit über Tübingen hinaus ein gesamtdeutsches Problem. Ein Markt für diese Kunstwerke existiere nicht, die Depots der Museen seien voll und angemessene Lagerplätze seien teuer oder gar nicht vorhanden. »Ganze Gebäude zu erhalten, gerade wenn sie in einem so schlechten Zustand wie der G91-Bau sind, ist auch in besseren Zeiten der Kommunalhaushalte finanziell nicht darstellbar und wäre auch nicht vertretbar gegenüber den vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern beziehungsweise deren Nachkommen, die ebenfalls auf die Stadt zukommen. Wir machen es daher wie es auch in anderen Städten gängige Praxis ist und übernehmen eine repräsentative Auswahl in die städtische Sammlung«, so Dagmar Waizenegger, Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur.
Viele Optionen hat die Künstlergruppe nun nicht mehr. Bis März sollen sie die Halle geräumt, und besenrein hinterlassen haben, was wiederrum lustig sei, da man die Halle doch wegen der Gefahrenlage gar nicht mehr betreten dürfe, witzelt Linda Li, ehe sie wieder ernst wird. Ähnliche Hallen zur Miete könne sich die Gruppe nicht leisten, der Rat einer BIMA-Mitarbeiterin, mehrere Wohnungen anzumieten, um die Werke zu unterbringen, sei nur lachhaft und die Kunst zu entsorgen, sei keine Option.
Was die Ausstellung nun noch retten könnte, wäre ein Investor: »Jemand der für Kunst, und vor allem unsere Kunst brennt. Wir sind alle nicht mehr so jung. Wir wünschen uns, dass Herbert Röslers Werke und Entwürfe den Leuten erhalten bleiben«, so Linda Li. Vom Traum eines eigenen Kunstmuseums ganz weit entfernt, ist das letzte Fünkchen Hoffnung noch nicht ganz verloren: »Wir sind voller Mut und Hoffnung, dass alles gut wird«, sagt Linda Li und schließt ihre Freunde liebevoll in den Arm. (GEA)