TÜBINGEN. An den Abend, als Maria Lonsdorfer fast ihr Leben verliert, hat die 67-Jährige kaum noch Erinnerungen. »Ich weiß nur noch, was mir mein Mann hinterher erzählt hat. Mir war nicht wohl, ich wurde kaltschweißig und mir war übel«, berichtet die Ruheständlerin, die früher am Tübinger Uniklinikum gearbeitet hat. Ihre Reaktion - ganz typisch: Sie legt sich hin, hofft auf Erholung. Doch ihr Ehemann wird misstrauisch, betritt nur Sekunden nach ihr das Schlafzimmer: Und findet seine Frau im Bett bewusstlos vor, die Atmung setzt aus. Maria Lonsdorfer hat einen Herzinfarkt erlitten. Ihr Mann wählt den Notruf und setzt damit die Rettungskette in Gang, die seit September 2024 um ein entscheidendes Glied angewachsen ist.
Damals startete im Landkreis Tübingen die App des Freiburger Vereins »Region der Lebensretter«. Die App soll helfen, bei einer Reanimation den Zeitraum ohne eine adäquate Herzdruckmassage möglichst gering zu halten. Denn schon kurze Zeit nach dem Herzkreislaufstillstand nimmt das Gehirn Schaden, die Nervenzellen sind auf eine ständige Sauerstoffversorgung durch den Blutkreislauf angewiesen. Hier zählt jede Minute. Durch die App, die medizinisch fachkundige Ersthelfer auf ihren Smartphones installieren können, kann die Leitstelle die Ersthelfer in der Nähe des Notfallortes orten und diese zusätzlich zum Rettungsdienst alarmieren.
Nach nur zwei Minuten drei Helfer vor Ort
Im Fall von Maria Lonsdorfer gibt es in Kilchberg gleich drei Lebensretter. Einer von ihnen ist Malte Steinmann. Für den 21-Jährigen ist Helfen im wahrsten Sinne des Wortes Ehrensache. Der Notfallsanitäter-Azubi ist in seiner Freizeit noch bei der Freiwilligen Feuerwehr und beim Technischen Hilfswerk aktiv. »Ich lag schon im Bett, war Richtung Schlaf unterwegs«, erinnert er sich an jenen Abend. Dann kam der Lebensretter-Alarm auf die Smartwatch. »Und der Adrenalinschub«, erinnert sich Steinmann. Er fährt sofort los. Eine Minute und 29 Sekunden später ist der Notfallsanitäter-Azubi des DRK vor Ort. Zusammen mit dem Ehemann legt er die leblose 67-Jährige auf den Boden. Für eine Reanimation wird ein harter Untergrund benötigt. Dann treffen, keine 30 Sekunden später, Stefanie Schneider und Inken Toellner ein. Die beiden Freundinnen haben den Abend zusammen verbracht - als auch bei der 26-jährigen Schneider die App auslöst, eilen operationstechnischen Assistentinnen los. Ohne Socken. »Wir waren nur zwei Straßen weit weg.«

Steinmann, Schneider und Toellner sind nur drei von mehr als 1.000 Menschen im Kreis, die sich bei der »Region der Lebensretter« (RdL) angemeldet haben. Viele der Helfenden wurden vom DRK-Kreisverband Tübingen dank einer großzügigen Spende mit einem Notfallrucksack ausgerüstet, der unter anderem eine Beatmungsmaske enthält, die statt der Mund-zu-Mund-Beatmung die hygienischere Möglichkeit bietet, die Betroffenen mit frischer Umgebungsluft zu beatmen. In den ersten Minuten kann darauf aber auch verzichtet werden, viel wichtiger ist, den Blutkreislauf durch die Herzdruckmassage in Gang zu bekommen, da der bewegungslose Körper nicht viel Sauerstoff verbraucht - das Gehirn kann so noch eine ganze Weile mit Sauerstoff versorgt werden. Optimal ist natürlich die Kombination: dabei wird bei einem Erwachsenen der Brustkorb rund hundertmal in der Minute fünf bis sechs Zentimeter tief komprimiert, nach jeweils 30 Thoraxkompressionen folgen zwei Beatmungen.
Diese Herz-Lungen-Wiederbelebung führen die drei Lebensretter auch bei Maria Lonsdorf aus, deren Herz nach einem Hinterwandinfarkt aus dem Takt geraten ist - bei dem sogenannten »Kammerflimmern« arbeiten die Herzmuskeln viel zu schnell und unkoordiniert, die menschliche Hochleistungspumpe kann so den Blutkreislauf nicht in Gang halten. An diesem Abend, es ist kurz nach 23 Uhr, läuft alles ideal: Nicht nur die Ersthelfer treffen schnell ein, auch der Rettungswagen ist nach nur sechs Minuten und 30 Sekunden vor Ort. Steinmann, Schneider und Toellner machen trotzdem weiter: Die RTW-Besatzung bereitet so lange die Defibrillation und Medikamente vor. Dann folgt der Elektroschock, der die Herzmuskeln aus dem Kammerflimmern herausholen soll. Nach dem Schock wird die Reanimation fortgesetzt. Dreimal ist der Elektroschock nötig, ehe das Herz wieder zu einem gesunden Rhythmus zurückfindet. Es sind dramatische Minuten, die über Leben und Tod entscheiden. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie überlebt«, gibt Stefanie Schneider bei der Schilderung ihres ersten Eindrucks rückblickend zu. Doch es gelingt, Maria Lonsdorf zu stabilisieren. »Als wir geholfen haben, sie in den Rettungswagen zu transportieren, lag ihre Sauerstoffsättigung wieder bei 100 Prozent.«
Defibrillator implantiert
Im Krankenhaus kämpfen die Ärzte weiter um das Leben der 67-Jährigen. Sie bekommt einen elektrischen Defibrillator implantiert, der im Notfall ein erneutes Kammerflimmern verhindern soll. Als Maria Lonsdorfer aufwacht, fühlt sie sich wie gerädert. »Da tun einem die Gräten ganz schön weh danach«, berichtet die Kilchbergerin und ergänzt lachend: »Aber: Ich lebe.« Der Muskelkater, ausgelöst durch die Herzdruckmassage und die Elektroschocks, ist nach wenigen Tagen abgeklungen. Inzwischen ist Lonsdorfer in einer Rehaklinik. »Es geht mir richtig gut. Ich hatte ganz viele Schutzengel und meine Lebensretter.«
Lonsdorfer ist es wichtig, sich bei ihren Rettern zu bedanken. Sie nimmt Kontakt zu Dr. Robert Wunderlich auf, ausgerechnet ein früherer Arbeitskollege von ihr, der inzwischen auch als Regionenkoordinator in Tübingen für die »Region der Lebensretter« fungiert. Noch vor ihrem Rehaantritt trifft die 67-Jährige auf ihre drei Lebensretter. »Das ging mir sehr ans Herz«, betont die aktive Ruheständlerin, die nun noch bewusster leben will - »im jetzt und hier«. Und sie freut sich über das Engagement und die Hilfsbereitschaft ihrer jungen Retter: »Dass sich im kleinen Kilchberg gleich drei junge Leute gefunden haben, die ohne zu zögern geholfen haben, ist wunderbar.« Gerne erzählt sie daher ihre (Erfolgs-)Geschichte, um für die Lebensretter-App zu werben. Deren dauerhafte Finanzierung ist indes im Kreis Tübingen noch unklar, außerdem gibt es allein in Baden-Württemberg noch viele weiße Flecken: Im Zollernalbkreis, in den Kreisen Tuttlingen und Göppingen sowie in zahlreichen Kreisen Nordbadens gibt es die App noch nicht.

Was Malte Steinmann nicht verstehen kann. »Die App ist das A und O«, um im Falle einer Reanimation doch mit einem guten Outcome - also ohne Folgeschäden - zu überleben. Denn es komme auf die schnelle Herzdruckmassage an, »die holt das meiste raus«. Diese lebensrettende Herzdruckmassage sollte sich indes jeder zutrauen - oder seinen Erste-Hilfe-Kurs auffrischen. Damit mehr Menschen im Notfall überleben. Und mit ihren Lebensrettern feiern können. Maria Lonsdorfer hat für ihre Retter beispielsweise Dankesbilder gemalt. Gemeinsam freuen sie sich über das Erlebnis, dass sie zusammengeschweißt hat. »Ihr habt euch einen Platz in meinem Herzen eingebrannt«, sagt Lonsdorfer ihren Rettern beim gemeinsamen Kaffetrinken in der Rehaklinik, das vom SWR-Fernsehen verfolgt wurde. »Ihr Ehemann hatte Tränen in den Augen, es war ein krasser Moment«, sagt Malte Steinmann über das Wiedersehen. »Mir ist bewusst geworden, dass er mit dem Verlust hätte leben müssen.« Einen Verlust, den Malte Steinmann, Stefanie Schneider und Inke Toellner verhindert haben - zusammen mit dem Ehemann, der die Rettungskette so schnell in Gang gesetzt hatte.(GEA)