TÜBINGEN. Die Vorwürfe sind hart: Im Tübinger Tierheim gehe es nur noch ums Geld. Der Tierschutz bleibe dabei auf der Strecke. Ganz konkret wirft eine Gruppe Tierschützer dem Verein vor, die Notfallnummer abgeschafft zu haben, hilfebedürftige Katzen nicht mehr einzufangen und zu kastrieren, Meldungen von Bürgern zu ignorieren, alte Tiere nicht mehr aufzunehmen, ehrenamtliche Tierschützer allein zu lassen.
Die Kritiker haben »in der Sache nicht ganz Unrecht«, sagt Nicole Kammerer, stellvertretende Vereinsvorsitzende. Allerdings habe das seine Gründe. »Tierschutz ist nur machbar, wenn auch Geld da ist.« Darüber wurde lange hinweggesehen, mit fatalen Folgen für den Verein: Einige Jahre lang stand er kurz vor der Insolvenz. Zwei Hauptversammlungen verstrichen, ohne dass sich ein Vorstand gefunden hat. Im Januar 2023 übernahm dann, auf Empfehlung der damaligen Kulturbürgermeisterin Daniela Harsch, FDP-Stadträtin Anne Kreim als »Notnagel« den Vorsitz. Seitdem versucht sie Ordnung in die Unterlagen und Finanzen des Vereins zu bekommen.
»Die Kritiker haben in der Sache nicht ganz Unrecht« - Nicole Kammerer, stellvertretende Vorsitzende des Tierschutzvereins
Das Jahr 2022 ist nun aufgearbeitet, jetzt stehen die Jahre 2019, 2020 und 2021 an. »Da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll«, sagt Kreim. Das Ehrenamt hat sich mittlerweile zu einem Vollzeitjob ausgewachsen. Immerhin konnte jetzt der Verlust der Gemeinnützigkeit abgewendet werden. Die Frist lief Ende April ab. Gerade noch rechtzeitig konnte der Vorstand Unterlagen bei der Steuerbehörde einreichen, um die Gemeinnützigkeit zu verlängern. Zu kämpfen hat der Verein außerdem auch mit Lücken beim Personal. Beide Vollzeitkräfte sind derzeit krank. Es bleiben zwei Teilzeitkräfte, ein Auszubildender und drei Minijobber. Die im Herbst eingestellte neue Leiterin hat schon wieder gekündigt. Fünf Hunde, zwölf Kleintiere und 40 bis 50 Katzen werden aktuell im Tierheim betreut.
Im Herbst vergangenen Jahres kam über eine Zeitungsannonce Ioannis Kujuktzidis als Schatzmeister zum Verein. Auch Nicole Kammerer ist seit Herbst dabei. Sie kommt aus den Reihen der Tierschützer und will nun erste Ansprechpartnerin für die Ehrenamtlichen sein. Auch, weil sie deren Sorgen und Nöte gut nachvollziehen kann. Anke Kerber-Strangmann wurde zur Schriftführerin gewählt. Das Vorstandsteam ist damit komplett und würde eigentlich gerne in dieser Zusammensetzung weiter arbeiten. Allerdings reißt die Kritik an der Arbeit der Vorsitzenden nicht ab. »Ich habe nicht gedacht, dass man so angegriffen wird, wenn man als Notnagel einspringt«, sagt Kreim. Die nächste Auseinandersetzung steht bevor: Am Sonntag ist Mitgliedersitzung. Da soll über eine Satzungsänderung abgestimmt werden.
»Ich habe nicht gedacht, dass man so angegriffen wird, wenn man als Notnagel einspringt« - Anne Kreim, Vorstandsvorsitzende des Tübinger Tierschutzvereins
Liest man die Kritik und hört dazu die Vorstandsmitglieder, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass da zwei Welten aufeinander treffen: Während für die einen die Tiere im Vordergrund stehen, versuchen die anderen in mühevoller Kleinarbeit die desaströsen Unterlagen und Finanzen des Vereins zu ordnen. Steuern wurden nicht richtig abgeführt, Tierarzt-Rechnungen ohne großes Ansehen bezahlt, Belege fehlen, Mitgliedsbeiträge wurden nicht eingezogen, Mitarbeiterschulungen gab es nicht, auch Stellenbeschreibungen fehlen. All das soll nun in geordnete Bahnen kommen. Dabei schaut Kreim sehr genau hin, wofür der Verein zuständig ist, was er übernehmen kann und was nicht. Auch daran entzünden sich viele Konflikte. Die Versorgung eines verletzten Frischlings gehöre zum Beispiel nicht dazu, sagt Kreim. Für Wildschweine seien die Jäger zuständig, nicht das Tierheim.
Die Kommunikation zwischen den beiden Gruppierungen ist jedenfalls nachhaltig gestört. Dabei geht es eigentlich beiden um den Erhalt des Tierschutzvereins. »Wir wollen alle, dass es vorangeht«, bestätigen die Vorstandsmitglieder. Sind alle Jahre finanziell und steuerrechtlich aufgearbeitet, hoffen sie darauf, Kapazitäten freizuhaben, um sich für den Bau eines neuen Tierheims einzusetzen. Die derzeitige Lage, in einem schattigen Tal eingekeilt zwischen der Bundesstraße nach Reutlingen und dem Schützenverein gefällt dort niemanden. Auch die Ausstattung ist schon lange in die Jahre gekommen. Der Eingangsbereich ist wenig einladend, die Hundezwinger erinnern an Gefängnisse. Kammerer ist froh, wenn sie dort keinen Hund unterbringen muss. »Hier ist es viel zu laut, viel zu dunkel und viel zu eng.«
Aber was sagen die vier Vorstandsmitglieder zu den konkreten Vorwürfen aus den Reihen der Tierschützer? Hier sind die Antworten:
Alte Tiere werden im Tierheim nicht mehr aufgenommen: Tatsächlich werde mittlerweile in so einem Fall erst geklärt, wie bedürftig die Tierhalter sind. Sie werden außerdem aufgefordert, ein Bild ihres Schützlings zu schicken. Der Tierschutzverein versuche dann, das Tier weiterzuvermitteln, erklärt Kreim. Das sei schließlich auch zum Wohle des Tieres. Es müsse dann nicht ins Tierheim.
Hilfsbedürftige, heimatlose Katzen werden nicht mehr eingefangen und kastriert: Ersteres stimme nicht, betonen die vier Vorstandsmitglieder. Erst Anfang der Woche wurden vier kleine Streunerkatzen aufgenommen. Sie müssen nun liebevoll aufgepäppelt werden. Das heißt, sie benötigen Tag und Nacht alle zwei Stunden Nahrung. Kujuktzidis hat sich sehr über den Vorwurf geärgert: »Das ist im Prinzip ein Nackenschlag fürs Tierheim«, sagt der Schatzmeister. Katzenkastrationen seien außerdem Sache der Gemeinden. »Die Stadt hätte gern, dass wir das übernehmen.«
Die Notfallnummer wurde abgeschafft: Tatsächlich gibt es die alte Notfallnummer des Tierheims nicht mehr. Allerdings sei diese Nummer ein privates Handy gewesen, sagt Kammerer. »Der alte Vorsitzende ging zu allen Tages- und Nachtzeiten dran. Das war seine Passion.« Im Tierschutzverein wurde nun eine neue Telefonanlage angeschafft. Die Nummer ist 07071 31831. Die Mitarbeiter sind angewiesen, innerhalb ihrer Dienstzeiten möglichst zeitnah ans Telefon zu gehen. Dass in der Vergangenheit da einiges schiefgegangen sein könnte, kann sich Kammerer durchaus vorstellen. Außerhalb der Öffnungszeiten, werden Hilfesuchende gebeten, sich an den diensthabenden Tierarzt oder die örtliche Polizeistelle zu wenden. Polizei und Veterinäramt haben Geheimnummern und Schlüssel für Tierboxen im Tierheim. Im Tierheim Reutlingen gibt es von 8 bis 17 Uhr eine Telefonnummer, die ständig besetzt ist, so Heidi Renner. Ab 17 Uhr bis 20 Uhr gilt in Reutlingen eine Notfallnummer, die auf einer Bandansage bekannt gegeben wird und von einer Tierheimmitarbeiterin übernommen wird. Ab 20 Uhr bis nächsten Morgen 8 Uhr werde auf den Polizeinotdienst umgestellt. Auch in Reutlingen kann sich die Polizei nachts mit dem Tierheim in Verbindung setzen oder Tiere bringen.
Meldungen von Bürgern werden ignoriert, ehrenamtliche Tierschützer, die helfen wollen, werden allein gelassen: Das sind Vorwürfe, die zumindest teilweise zu treffen, sagt Kammerer. Vieles erkläre sich mit den vielen Umstellungen innerhalb des Vereins, der Installation der neuen Telefonanlage und der Personalnot. Da könne es schon sein, dass in den vergangenen Monaten der ein oder andere Anruf nicht schnell genug beantwortet wurde. Die neue Anlage dokumentiert nun die Anrufe. Allem werde nachgegangen, betont Kreim. Kammerer wiederum will sich jetzt verstärkt um die ehrenamtlichen Tierschützer kümmern. »Wir werden immer wieder Gespräche anbieten«, verspricht die stellvertretende Vorsitzende. »Die Ehrenamtlichen brauchen eine gute Betreuung.« (GEA)