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»Schwanenabend« in Nehren: Matthias Platzeck spricht die großen Themen an

Matthias Platzeck sprach beim »Schwanenabend« in Nehren die großen Themen an: Von der Wiedervereinigung über den Zustand der Demokratie bis zu Russland hatte der frühere Ministerpräsident von Brandenburg viel zu sagen.

Matthias Platzeck (links) im Gespräch mit Journalist Joachim Kreibich.
Matthias Platzeck (links) im Gespräch mit Journalist Joachim Kreibich. Foto: Alexander Thomys
Matthias Platzeck (links) im Gespräch mit Journalist Joachim Kreibich.
Foto: Alexander Thomys

NEHREN. Zum - vorläufigen - Abschluss der Schwanenabend-Reihe im gleichnamigen Gasthof in Nehren konnte Organisator Thomas Puchan den früheren Brandenburger Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) begrüßen. Der heute 71-Jährige hatte sich bei der Oderflut 1997 den anerkennenden Beinamen »Deichgraf« verdient und war kurzzeitig Bundesvorsitzender der Sozialdemokraten. Aktuell ist Platzeck, der einst den Vorsitz des deutsch-russischen Forums innehatte, eine der mahnenden Stimmen, die mehr diplomatische Anstrengungen in Sachen Ukraine-Krieg einfordern.

Ein Thema, das Platzeck auch in Nehren nicht losließ - und das bei seinen Zuhörern, die sich nebenbei ein Fünf-Gänge-Menü-Abendessen gönnten, auf großes Interesse stieß. »Wer den Krieg angefangen hat, trägt die Schuld. Da gibt es kein Vertun«, betonte Platzeck zu diesem Thema eingangs, um allerdings gleich eine gewisse Relativierung hinterherzuschieben: »Aber es gibt immer eine Vorgeschichte.« Auch wenn diese, wie Platzeck konstatierte, »in Kriegszeiten keine Rolle spielt«. Im Nachgang des Zusammenbruchs der Sowjetunion habe der Westen viele Fehler gemacht. »In der früheren Sowjetunion ist eine radikale, neuliberale Umgestaltung umgesetzt worden«, erklärt Platzeck. Zu keiner Zeit habe es in der Folge eine Politik auf Augenhöhe mit Russland gegeben.

Als Russlands Präsident Wladimir Putin - inzwischen vom internationalen Strafgerichtshof mit Haftbefehl gesucht - 2001 vor dem Deutschen Bundestag die europäische Integrations Russlands beschwor, hätte die Bundesregierung daraus »mehr machen können«, sagt der Ostdeutsche. »Heute können natürlich diejenigen, die immer alles besser wissen, sagen, das war damals alles gelogen«, ergänzt Platzeck, der dagegen glaubt: »Damals hätten wir Putin kriegen können.« Stattdessen fehlte es weiter an einer Politik auf Augenhöhe, so der frühere SPD-Vorsitzende. »Wir sind überall in der Welt mit erhobenem Zeigefinger unterwegs«, kritisierte Platzeck. Der Gipfel: 2014 degradierte US-Präsident Barack Obama Russland zur »Regionalmacht«.

Vorbereitung für den »Tag danach«

Bezogen auf kurzfristige Friedenshoffnungen zeigte sich Platzeck eher skeptisch. »Ich glaube nicht mehr daran, dass die Russen das Land wieder räumen - und die Toten werden auch nicht wieder lebendig«, sagte der 71-Jährige. Zudem gäbe es in Russland keine nennenswerte liberale Opposition mehr - stattdessen gäbe es aber eine starke nationalistische Opposition, die gar für eine Intensivierung der russischen Kriegsanstrengungen stehen würde. »Ein hoher Prozentteil der Russen ist gegen Zugeständnisse«, berichtete Platzeck, der selbst kürzlich in Moskau weilte, um die zivilgesellschaftlichen und politischen Kontakte nicht gänzlich einschlafen zu lassen. »Diplomatie muss auch ein 101. Mal an die Tür klopfen, wen es die ersten 100 Male sinnlos war«, machte der frühere brandenburgische Ministerpräsident seine Haltung deutlich.

Denn für Platzeck ist klar: »Es wird einen Tag danach geben.« Und dann müsse es Wege zur Versöhnung geben. »Das deutsch-russische Forum gibt es noch auf Sparflamme, einfach nur, um es nicht ganz kaputtgehen zu lassen«, machte Platzeck sein Engagement deutlich. Bei diesen Gesprächen werde etwa auf die deutsch-russische Versöhnung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs geschaut: »Wir wollen eruieren, welche Wege es in den 1950ern, 60ern und 70ern gab, die das Eis gebrochen haben. Sowas geht aber nicht auf die Schnelle - aber gerade jetzt wollen wir in aller Stille gemeinsam daraus lernen.«

Aus der Vergangenheit lernen, darum geht es auch beim Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation, das auf Initiative der damaligen Bundesregierung in Halle an der Saale entstehen soll, und das für Matthias Platzeck zum Herzensanliegen geworden ist. Dort soll erforscht werden, wie Gesellschaften auf gravierenden Veränderungen - wie etwa die Wiedervereinigung - reagieren. Solche Transformationen würde es auch in Zukunft geben. »Der Klimawandel wird die Gesellschaften auf den Kopf stellen, die Digitalisierung viele Jobs wegfallen lassen. Letzteres findet der Ökonom spannend, die meisten betroffenen Menschen aber nicht«, sagt der erfahrene Politiker. Es sei deshalb wichtig zu lernen, künftige Umwälzungen »besser zu steuern«.

Der Gesprächsabend mit Matthias Platzeck war frühzeitig ausverkauft.
Der Gesprächsabend mit Matthias Platzeck war frühzeitig ausverkauft. Foto: Alexander Thomys
Der Gesprächsabend mit Matthias Platzeck war frühzeitig ausverkauft.
Foto: Alexander Thomys

Bei der Deutschen Einheit etwa habe das nicht geklappt. Statt den Ostdeutschen »gesellschaftliche Haltegriffe« mit in die neue Zeit zu geben, sei alles aus dem Osten pauschal abgelehnt worden, so einer seiner Kritikpunkte. »Die Kinderbetreuung, die Gesamtschule, die Polykliniken - diese Strukturen beispielsweise waren allesamt sinnvoll.« Stattdessen: 40 Prozent Arbeitslosigkeit, die allermeisten Ostdeutschen mussten neue Berufe erlernen. Und die Ungleichheit würde sich noch verstärken: »Die meisten Führungskräfte in Ostdeutschland stammen aus dem Westen. Und Eliten rekrutieren sich meist aus Eliten. Und in Städten wie Leipzig gehören die meisten Wohnungen Westdeutschen - dorthin fließen die Mieteinnahmen.«

»In Städten wie Leipzig gehören die meisten Wohnungen Westdeutschen - dorthin fließen die Mieteinnahmen.«

Auch der Demokratie widmete Platzeck einige Zeit, sieht der erfahrene Politiker doch die zunehmende Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit. Als Gegenmaßnahmen fordert Platzeck mehr Entscheidungsspielräume und Ermessensfreiheit für Behörden, um die Verwaltung schneller und flexibler zu machen. Klagewege indes sollten gekürzt werden. »Demokratisch gewählte Räte sehen oft die Umsetzung ihrer Entscheidungen erst, wenn ihre Amtszeit zu Ende geht. Erst dann kann oft gebaut werden, nachdem es Gerichtsurteile gibt.« Dies sei ein Unding. »Zur Demokratie gehört ein Dreiklang: Streiten, Entscheiden, Umsetzen.« Applaus im Saal.

Nicht unerwähnt blieb auch die Oderflut, deren erfolgreiches Krisenmanagement maßgeblich mit dem damaligen Brandenburger Umweltminister Matthias Platzeck verbunden wurde. Nachdem aus Polen und Tschechien viele Tote gemeldet wurde, sei ihm klar gewesen: »Da kommt kein normales Hochwasser.« Platzeck ließ den Einsatzstab hochfahren - und platzierte ihn in einem Hotel an der Oder. »Eine solche Lage muss man erleben, die kann man nicht vom Schreibtisch führen«, ist Platzeck überzeugt. Eine Haltung, die ihm viel Anerkennung einbrachte. Irgendwann stand das Wasser auch im besagten Hotel. »Wir haben Glück gehabt«, sagt der 71-Jährige rückblickend und gesteht: »Wir haben nicht gedacht, dass wir es schaffen, den Oderbruch zu retten.« Damals habe er auch Respekt vor der Bundeswehr gelernt, die mit 10.000 Soldaten im Einsatz war. »Für mich war das ein Aha-Erlebnis«, gibt Platzeck zu. (GEA)

Geht es mit den Schwanenabenden weiter?

Greogor Gysi, Ewald Lienen, Matthias Platzeck: Organisator Thomas Puchan brachte zusammen mit Hans-Jürgen Müller für das Forum Nachhaltiges Nehren zahlreiche Prominente zum Abendessen-Interview in den genossenschaftlich geführten Schwanen. Nun ist Puchen weggezogen. Und die Fortsetzung der Gesprächsabende unklar. Eine halbjährige Pause werde es wohl in jedem Fall geben, sagte Puchan. Doch alle Beteiligten deuteten nach dem ausverkauften Abend mit Platzeck an, dass ihnen eine Fortsetzung der Reihe ein Herzensanliegen wäre. (GEA)