MÖSSINGEN. Als ob die Stadt zur dritten großen Geburtstagsparty im fünfzigsten Jahr ihres Bestehens alle Floristik- und Kunstläden der Region zusammengetragen hätte: Rosige Zeiten sind am verkaufsoffenen Sonntag wieder in Mössingen angebrochen. Allein auf über viertausend Quadratmetern erstreckten sich auf dem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt blühende Landschaften.
Das Blumen- und Pflanzenmeer, dazwischen die unzähligen rostigen Gartenkunst-Skulpturen, gab eine Vorausahnung, wie Mössingen in fünfzig Jahren aussehen könnte. So lange dauert es nach einer Analyse der Universität Edinburgh, bis die Natur sich eine Stadt zurückgeholt hat. Vorausgesetzt, die Bewohner kümmern sich nicht mehr um den Unterhalt von Wegen und Häusern. Schreckensszenarien gibt es ja viele, man denke nur an ein frühes Ausscheiden der EM-Elf.
Im Verfalls-Fall würden, wie gestern, auf der Breitestraße keine Fahrzeuge mehr fahren können, weil über dem zerfallenen Asphalt die Pflanzen wuchern. Ob es so schöne, prächtige sind, wie die in den von Händlern aus dem ganzen Bundesgebiet an Ständen angebotenen, samt Edelrost-Dekoration, sei dahingestellt. Auch viele Anwohner haben ihre Gärten für die aus dem gesamten Südwesten angereisten Gäste auf Vordermann gebracht.
Allen voran die Martin-Luther-Kirchengemeinde, die mit über 100 Rosensorten rund um das Gotteshaus für ihr Heart Rose Café warb. Und zwar so erfolgreich, dass noch vor Beginn der Kaffee-Zeit alle dreißig Kuchen weg waren. So ging es ob der Massen vielen Anbietern: Talheims Liederkranz war um 14 Uhr wursttechnisch ausverkauft.
Gäbe es auch hier den grünen Daumen und die schwäbische Sauberkeit der Mössinger nicht, würden Pilze und Käfer die Arbeit übernehmen. Über die Schwachstelle der undichten Fenster kämen vom Wind getriebene Pflanzensamen in die Wohnungen, Fugen würden rissig, Wurzeln sprengten Wände – Mössingen wäre ein Lost Place.
Bevor es so weit kommen könnte, nutzen deshalb Abertausende Besucher einen weiteren traumhaften Sommer-Veranstaltungstag in der Blumenstadt auf Zeit. Ein Großteil der baden-württembergischen Autokennzeichen samt Anrainerstaaten befand sich auf Stop-and-go-Parkplatzsuchfahrt. Bereits zwei Stunden vor Markteröffnung brummte es in der Stadt wie an zwei Samstagvormittagen auf einmal. »Wir sind sehr zufrieden«, sagt HGV-Chefin Barbara Muschler. »Ich glaube, so viele Besucher hatten wir noch nie.« Das sei zwar nur ein Gefühl, »wir müssen dringend man eine verlässliche Zählung durchführen.« Anhand des Autoaufkommens lässt sich tatsächlich darauf schließen, dass es mehrere Zehntausend Besucher waren. Kolonnen Blumentöpfe und Taschen tragender Leute konnte man auch auf dem Weg zum Zug sehen. Innerhalb der Stadt gab es zwischen Stotz-Platz und Gesundheitszentrum nur ein Durchschieben.
Lange Warteschlangen vor den Verköstigungsständen der örtlichen Vereine musste man einplanen. Mit immensem Personalaufgebot wurden jedoch alle Trink- und Esswünsche befriedigt. Reihten sich beim »bunten Mössingen« letzte Woche neben Tanz, Sport- und Spiel-Darbietungen ein, waren es jetzt neben Rosen vor allem Kunst- und Kunsthandwerk-Vorführungen. Bei Gerlinde Dürkop lernte man das Knüpfen von Perlenketten. Eine Tätigkeit, die die ersten Mössingerinnen bereits beherrschten, wie ein Grabfund aus dem späten 6. Jahrhundert mit fast 400 Glas- und Bernsteinperlen in der Otto-Merz-Straße belegt. Noch vor der Ersterwähnung des Ortes, die sich bekanntlich zum 1.250 Mal jährt, dürfte auch das Kräuterkränze-binden, wie von Heidrun Wehrstein gezeigt, das Drechseln, dargeboten von Petra Wiedmann oder das Tonen, wie es von Silvia Hörner und Klaus Dentler erklärt wurden, zum Alltag unserer Vorfahren gehört haben.
Angrenzend zu den auf den großzügigen Rasenflächen vor der Gottlieb-Rühle-Schule aufgereihten Ständen lockten zur Schau gestellte Antiquitäten – in Schachteln und auf Rädern – die Massen in die Steinlachmetropole. Zwar fand zeitgleich in Hirrlingen das große historische Schlepper-Treffen mit 600 landwirtschaftlichen Fahrzeugen statt. Doch bei der ersten Oldtimer-Schau des Handel- und Gewerbevereins lockten außergewöhnliche alte Autos und Motorräder, meist aus den Jahrzehnten vor und nach der Stadterhebung
So hatten die Besucher die Qual der Wahl zwischen dem Garagengold der Aussteller, wie einem goldgelben VW 1302, oder beispielsweise nostalgischer Primelschönheiten, wie der goldgelben Primula Belarina, auch »Goldie« genannt. (GEA)