TÜBINGEN. Es war ein langer Dienstag für die 2. Große Strafkammer am Tübinger Landgericht. Insgesamt zwölf Zeugen waren geladen, um gegen einen 52-Jährigen auszusagen, der über mehrere Jahre ohne greifbares Motiv Menschen angegriffen und zahlreiche Sachbeschädigungen begangen haben soll. Schuldfähig ist der zuletzt obdachlose Techniker aufgrund seiner schweren psychischen Erkrankung nicht. Seit August ist der 52-Jährige deshalb in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht.
Wie der Angeklagte beim Prozessauftakt am vergangenen Donnerstag sagte, habe er das Gefühl, der Aufenthalt helfe ihm. Grundsätzlich gehe es ihm in der Einrichtung gut, Angebote wie eine Gesprächstherapie wolle er wahrnehmen. Nach der Scheidung von seiner Frau sei er seit 2016 obdachlos und halte sich mithilfe von Foodsharing über Wasser. Sozialleistungen beziehe er keine. Der Kontakt zu seiner Familie sei abgerissen. Bei dem aktuellen Prozess soll es nun darum gehen, ob der Techniker weiter zwangsweise in der Klinik bleiben muss. Im Antrag von Staatsanwalt Felix Schmidhäuser geht es vor allem um vier Fälle von vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter gefährlicher Körperverletzung.
Um Licht in drei dieser Angriffe zu bringen, wurden am Dienstag Zeugen vor das Landgericht geladen. Mehrere Zeugen, darunter auch die im Einsatz befindlichen Polizisten, bestätigten mit kleinen Abweichungen in ihrer Wahrnehmung den Tathergang: Demnach soll der Angeklagte am 7. August 2023 in der Mühlstraße eine junge Frau massiv aus dem Nichts heraus beleidigt haben. Ihr Begleiter, ein 23-jähriger Student, sagte dem 52-Jährigen darauf hin, dass er sein »Maul« halten solle – was der Angeklagte nicht auf sich sitzen ließ und drohte, den Studenten mit einem Skateboard zu verprügeln.
Wohl um seine Absichten deutlich zu machen, schlug der damals Obdachlose mit dem Brett erst gegen eine Schaufensterscheibe, dann gegen das Beifahrerfenster eines geparkten Porsches, welches zersplitterte. »Dann hat er zwei oder drei Mal nach mir ausgeholt«, schilderte der junge Student dem Gericht mit Gestik und Körpereinsatz. Als der Fahrer des Autos, der ebenfalls als Zeuge geladen war, Wind von der Sache bekam, stürmte er mit weiteren Männern aus einem benachbarten Imbiss auf den Angeklagten zu und sie fixierten ihn – wobei er am Kopf verletzt wurde – bis zum Eintreffen der Polizei. »Die Platzwunde wollte er nicht im Krankenhaus behandeln lassen«, erklärte einer der Polizisten im Zeugenstand. Er sei sehr aufgebracht gewesen, redete von Verschwörungsmythen mit Bezug zum US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA und beschwerte sich über den Qualitätsverlust seiner Kopfhörer.
Angeklagter ist polizeibekannt
Das sei aber nichts Neues. Den Beamten sei der 52-Jährige hinlänglich bekannt. Immer wieder haben sie mit ihm zu tun gehabt – insbesondere Sachbeschädigungen wie abgetretene Seitenspiegel von Autos und kaputte Fahrräder gingen wohl auf das Konto des Mannes. »Seit er in der Einrichtung ist, gibt es da keine Schadens-Serien mehr«, so ein weiterer Polizist. An diesem Augustabend zerbrach er allerdings – ebenfalls mithilfe seines Skateboards – den Schaukasten einer Kneipe in der Mühlstraße.
Im Oktober 2023 schmiss der Angeklagte eine Bierflasche nach einem 80-jährigen Ordner auf einer Kundgebung am Holzmarkt. »Ich habe die Schreie eines Mannes gehört, der sich mit Passanten am Brunnen gestritten hat«, erzählte der Senior. Dann sei die Flasche plötzlich »in hohem Bogen« in Richtung des unbeteiligten Rentners geflogen, der das Rednerpult aufbaute. Die Flasche sei ein paar Meter entfernt an den Stufen der Stiftskirchentreppe zerschellt. »Ich hatte es gar nicht so wahrgenommen, dass der Angriff unmittelbar meiner Person galt«, gab der 80-Jährige zu Protokoll. Der Angeklagte entschuldigte sich bei dem Senior: Er habe ihm keine Angst machen wollen.
Weniger Glück hatte eine Rentnerin, die im Februar vergangenen Jahres unbewusst auf den Angeklagten traf. Als sie die Auslage eines Schaufensters in der Wilhelmstraße begutachtete, soll der Angeklagte aus dem Nichts hinter sie getreten sein und ihren Kopf gegen das Fenster geschlagen haben. Die ältere Dame ging zu Boden, der mutmaßliche Täter flüchtete über die Straße in Richtung Lustnauer Tor. Passanten halfen der Frau und gaben eine Personenbeschreibung ab, durch die der Angeklagte von der Polizei gefasst werden konnte.
Im weiteren Verlauf des Prozesses werden zusätzliche Zeugen gehört, zudem wird ein medizinisches Gutachten in den Fokus des Gerichts gerückt. Der Prozess wird am kommenden Dienstag fortgeführt. (pru)
IM GERICHTSSAAL
Richter: Simon Salzbrunn (Vorsitzender), Alexander Fleck, Bernd Große Staatsanwalt: Felix Schmidhäuser Verteidiger: Hans-Christoph Geprägs Psychiatrische Gutachterin: Claudia Hartmann-Rahm. (GEA)