KUSTERDINGEN/TÜBINGEN. Sie war erst zwei Tage in dem kleinen Dorf auf den Härten. Dort sollte die Frau aus Polen einen älteren Mann pflegen. Doch am 3. Februar diesen Jahres kam es zur Katastrophe. Laut Staatsanwaltschaft soll die sturzbetrunkene 49-Jährige versucht haben, die Ehefrau des pflegebedürftigen Mannes mit einem Kissen zu ersticken. Warum? Das versucht seit gestern das Schwurgericht des Tübinger Landgerichts an vier Verhandlungstagen mit einer Vielzahl von Zeugen und Sachverständigen zu klären.
Am Abend des 3. Februar 2023 ging ein Notruf bei der Polizei ein. Es habe im Nachbarhaus einen Streit gegeben. Ein Streifenwagen fuhr zu der Adresse in einem Dorf auf den Härten. Dort ließ der Nachbar die Streife ins Haus. Die Polizeibeamtin und ihr Kollege trafen im Esszimmer eine aufgelöste 80-jährige Frau und ihre Tochter an. Sie berichten der Streife, dass die polnische Pflegekraft versucht habe, die Seniorin zu töten.
Auf die Frage, wo denn die mutmaßliche Täterin sei, kam die Antwort: im Obergeschoss. Der Polizeibeamte eilte nach oben und traf dort auf die 49-jährige Polin, die auf dem Sofa saß und telefonierte. Sie beendete das Gespräch und der Beamte wollte die Sachlage klären. Die 49-Jährige habe auf den ersten Blick »nicht berauscht gewirkt«, meinte der Beamte am Mittwoch vor Gericht.
Doch als die Frau aufgestanden sei, habe sie deutlich geschwankt. Nicht ohne Grund: Ein Atemalkoholtest ergab später einen Wert von über drei Promille. Die 49-Jährige hatte wohl große Mengen Flaschen Schnaps zuvor getrunken. Später schlief sie sogar, obwohl die Polizei noch im Haus war, auf dem Sofa ein.
Antidepressiva genommen
Vor Gericht gab die 49-Jährige zu, dass sie ein Alkoholproblem habe. Sie habe bereits eine Entziehungskur hinter sich und sei auch eine Zeit lang trocken gewesen. Im Januar habe sie aber wieder angefangen, Alkohol zu trinken. Und wenn sie Alkohol trinkt, »finde ich kein Ende mehr«, erklärte sie selbst gestern dem Gericht.
Am 1. Februar 2023 war sie in das Dorf gekommen. Sie hatte mit der 80-Jährigen eingekauft, beide hatten sich darauf vorbereitet, dass der pflegebedürftige Mann aus der Klinik nach Hause kommt. Der kam dann auch am nächsten Tag. Alles lief anfangs nach Plan. Am 3. Februar abends war die Angeklagte dann in ihr Schlafzimmer gegangen. »Ich habe schon mittags Schnaps getrunken«, beichtete sie gestern dem Gericht. Sie sprach von drei Bechern mit Alkohol, es müssen aber mehr gewesen sein.
In der Nacht habe sie dann von unten »Hallo«-Rufe gehört. Sie habe gedacht, der 80-Jährigen sei etwas passiert. Weil die Rufe nicht aufgehört hätten, sei sie hinunter ins Schlafzimmer der alten Frau gegangen und habe sich neben sie aufs Bett gesetzt. Plötzlich sei die Frau aufgewacht, habe sie erschrocken angeschaut, sei aufgesprungen, aus dem Zimmer geeilt und habe die Tür hinter sich zugeschlossen.
Die Angeklagte stellte fest, dass sie im Erdgeschoss war, kletterte aus dem Fenster nach draußen und ging dann durch die Haustür wieder in ihr Zimmer im Obergeschoss. Eins sei für sie sicher: »Ich habe der Frau nichts getan«, behauptete sie gestern. In der Anklageschrift von Staatsanwalt Lukas Bleier hört sich die Geschichte allerdings anders an. Danach soll die 49-Jährige am 3. Februar um 22.15 Uhr in das Schlafzimmer der alten Frau gekommen sein. Sie habe dann dem Opfer mehrere Minuten ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Die Frau habe aber immer wieder ihren Kopf zur Seite drehen und sich schließlich befreien und flüchten können. Angeklagt ist der Fall als versuchter Totschlag.
Aber warum soll die 49-jährige Angeklagte das getan haben? Möglicherweise ist der Grund in dem hohen Alkoholkonsum zu finden. Außerdem hat die Angeklagte an dem Abend noch Antidepressiva und andere Beruhigungsmittel zu sich genommen.
Von dem Kissen, das sie der Frau aufs Gesicht gedrückt haben soll, will sie nichts wissen. »Welches Kissen?«, fragte sie. Aber die Polizei fand dieses Kissen im Zimmer der alten Frau. Sie habe absolut keine Ahnung, wie dieses Kissen in das Zimmer gelangt sei, erklärte die Angeklagte. Am kommenden Verhandlungstag will die Schwurgerichtskammer das Opfer und noch weitere Zeugen hören. Vielleicht bringen diese Aussagen mehr Hinweise auf ein mögliches Motiv der Angeklagten. Der Prozess wird am 28. Juli fortgesetzt. (GEA)