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Pflegebedürftige findet in Kirchentellinsfurt ein Zuhause - eine Erfolgsgeschichte

Seit sie als Säugling eine Hirnblutung erlitten hat, ist die heute 24-jährige Karin Märthesheimer pflegebedürftig. Vor rund drei Jahren ist sie über das Programm »Begleitetes Wohnen in Familien« bei der 64-jährigen Uschi Schicke eingezogen. Heute sind die zwei Frauen unzertrennlich, für Märthesheimer geht es seitdem stetig bergauf. Eine Erfolgsgeschichte.

Uschi Schicke (links) hat die junge Karin Märthesheimer bei sich aufgenommen, um sie zu pflegen und für sie da zu sein. Der Sozi
Uschi Schicke (links) hat die junge Karin Märthesheimer bei sich aufgenommen, um sie zu pflegen und für sie da zu sein. Der Sozialpädagoge Horst Baur vom Verein für Sozialpsychiatrie hilft den beiden Frauen dabei. Foto: Paul Runge
Uschi Schicke (links) hat die junge Karin Märthesheimer bei sich aufgenommen, um sie zu pflegen und für sie da zu sein. Der Sozialpädagoge Horst Baur vom Verein für Sozialpsychiatrie hilft den beiden Frauen dabei.
Foto: Paul Runge

KIRCHENTELLINSFURT. So wie Uschi Schicke und Karin Märthesheimer zusammen am Tisch sitzen, könnte man meinen, sie seien Mutter und Tochter. Verwandt sind die beiden aber nicht. Seit rund drei Jahren lebt die 24-jährige Karin Märthesheimer bei der 64-jährigen Uschi Schicke in Kirchentellinsfurt. Die junge Frau kann sich nur teilweise selbst versorgen: Seit sie als Säugling nach der Geburt eine Hirnblutung erlitt, ist Märthesheimer pflegebedürftig. Sie leidet an einer halbseitigen Körperlähmung, muss massive, spontan auftretende Krampfanfälle ertragen und kämpft mit einer starken Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Über das Programm »Begleitetes Wohnen in Familien« und den Verein für Sozialpsychiatrie (VSP), der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Gastfamilien unterbringt und betreut, haben sich die zwei Frauen gefunden. Und sind seitdem unzertrennlich.

»Am Anfang kam Karin erstmal zwei Wochen zu mir - um zu schauen, ob's passt«, erinnert sich Schicke. »Ich habe sofort gespürt, dass es richtig war.« Trotzdem: Aller Anfang ist schwer. »Ich wusste bis dahin wenig über Karins Behinderung und hatte kaum Erfahrung mit ADHS.« Die 64-Jährige musste erst lernen, mit den starken Stimmungsschwankungen, Wutausbrüchen und den plötzlich auftretenden Krampfanfällen klarzukommen. Bis zu 20 Minuten können diese dauern, häufig wird die 24-Jährige davon bewusstlos. »Ich kriege davon eigentlich nicht viel mit, und dass es mich dabei umhaut, ist Gewohnheitssache«, erzählt Märthesheimer mit einer Lockerheit, mit der andere einen Besuch im Eiscafé beschreiben würden. Die junge Frau schätzt den Pragmatismus, mit dem Schicke an die Probleme des Alltags herangeht und sich um sie kümmert. »Sie behandelt mich wie eine normale Person.« Für Märthesheimer war bereits am dritten Tag klar: Hier will sie nicht wieder weg. »Ganz am Anfang hatte ich Verlustangst«, erzählt die 24-Jährige. »Ich wurde hier aufgenommen wie ein Familienmitglied.«

Stundenlange Panikattacke

Dieses Gefühl hatte Märthesheimer schon lange nicht mehr gehabt. Aufgewachsen bei ihrer Mutter, die mit der Pflege der schwerkranken Tochter überfordert war, war die heute 24-Jährige früh auf sich allein gestellt und auf Pflegedienste angewiesen. Zuletzt lebte sie in einer betreuten Wohngemeinschaft, was aber nicht lange gut ging. »Ich war dort kognitiv die Stärkste«, gibt Märthesheimer unumwunden zu. »Ich wollte meine Mitbewohner retten und für sie da zu sein. Aber das hat mich überfordert.« Die erste Panikattacke, die sie stressbedingt erlitt, quälte die junge Frau über Stunden. »Ich habe mich für alle verantwortlich gefühlt. Denn wenn jemand Hilfe braucht, dann helfe ich.« Als die Attacken in den darauffolgenden Monaten immer häufiger auftraten, war klar: So geht es nicht weiter. In Absprache mit ihrer damaligen Betreuerin entschied Märthesheimer, eine Familie über das Begleitete Wohnen zu suchen.

»Das ist häufig einer der Gründe, warum Menschen zu uns kommen: Weil es in einer bestimmten Wohnart für sie nicht mehr funktioniert«, erklärt Horst Baur vom VSP. Baur und seine Kollegen vom Fachdienst kümmern sich um die Wohngäste, die an einer psychischen Erkrankung leiden und Paaren, Familien oder auch Einzelpersonen im ganzen Landkreis leben. Regelmäßig schaut er bei seinen Schützlingen vorbei. »Wir begleiten und beraten die Familien und Gäste, wann immer es notwendig ist.« Der Sozialpädagoge hat auch die beiden Frauen einst einander vermittelt. »Das geht natürlich nur, wenn wir eine gewisse Auswahl an Familien haben«, betont Baur, »und genau das ist oft das Problem«.

Betreuung wird vergütet

Mithilfe des Vereins einen bedürftigen Menschen aufnehmen kann tendenziell jeder. Eine medizinische oder gar pflegerische Ausbildung ist dafür nicht notwendig, auch muss keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung gewährleistet sein. Wie intensiv die Einbindung der Menschen in die Familie ist, loten alle zusammen aus. »Das richtet sich immer nach dem Bedarf der Klienten und dem, was Gastgeber bereit sind zu tun«, sagt Baur. Manche Gäste hätten einen Pflegegrad, andere nicht. »Wir empfehlen, dass sich die Menschen fragen sollten, wieviel Zeit sie für einen Gast aufbringen wollen.«

Deshalb lässt der VSP bei der Vermittlung genug Sorgfalt walten, die Gastfamilien und Klienten im Vorfeld genauer kennenzulernen. Sowohl Betreuungs- als auch Pflegearbeit werden steuerfrei vergütet, ebenso wird die Unterkunft und Verpflegung erstattet. »Aber in allererster Linie darf man es nicht des Geldes wegen tun«, stellt der Sozialpädagoge fest. Das könne für die Gäste sonst zu schlechten Erfahrungen führen - wenn die Familien nicht mit dem Herzen dabei sind. Um das zu gewährleisten, werde jede Familie vorab intensiv geprüft.

Gastfamilien gesucht

Der Verein für Sozialpsychiatrie sucht nach Familien und Einzelpersonen, die bereit sind, einen Menschen bei sich aufzunehmen. Interessierte können sich direkt bei Horst Baur oder per Mail melden. (GEA)

07071 7541802

bwf-tue@vsp-net.de

Trotzdem: Erfahrung, wie Uschi Schicke sie hat, ist immer wertvoll für das Betreuungsverhältnis. »Ich habe lange meine beiden Eltern gepflegt«, erzählt Schicke. Nach deren Tod wollte sich die 64-Jährige weiter um Menschen kümmern. »Durch Bekannte bin ich auf den VSP und das begleitete Wohnen gekommen.« Auch ihre krebskranke Nachbarin hat sie gepflegt - teilweise mit der Hilfe von Märthesheimer, die viel zu dritt unternommen haben. »Sie in ihren letzten Stunden begleitet zu haben, war ein Privileg«, verrät Schicke.

Ziel: die eigene Wohnung

Wie lange die 24-jährige Karin noch bei Uschi Schicke bleibt, steht noch nicht fest. »Wir arbeiten langsam daran, immer selbstständiger zu werden«, erklärt die 64-Jährige mit Blick auf ihre Ziehtochter. Durch die ADHS und die vielschichtigen Probleme, die ihre Behinderung mit sich bringt, kann sich Märthesheimer nur schwer konzentrieren, auch mit der Orientierung außerhalb der Wohnung klappt es nur schwer. Aber es wird immer besser: Mittlerweile kocht die 24-Jährige eigenständig, geht vier Stunden am Tag arbeiten und übt sich an kunstvollen Stickereien. »Solange Karin einen klaren Ablauf im Alltag hat, funktioniert es gut«, sagt Schicke. »Es ist einfach eine tolle Sache, jemanden aufzubauen.«

Durch das liebevolle Verhältnis der beiden Frauen geht es für Märthesheimer seit Jahren bergauf, auch der Kontakt zum Vater ist wiederhergestellt, was die Tochter besonders freut. Da ist es vielleicht nicht mehr lange hin, und die 24-Jährige kann - so das angepeilte Ziel - in ihre eigene Wohnung ziehen und ein selbstbestimmtes Leben führen. (GEA)