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Pflege: Tübingens Kampf gegen den Fachkräftemangel

Zu Semesterbeginn verjüngt sich die Stadt, weil ein Drittel der Einwohner Studierende sind. Doch das Bild trügt: Die Welle der Babyboomer trifft auch Tübingen.

Pflegeheim
Die Bevölkerung wird älter - auch in Tübingen. Die Stadt braucht mehr Fachkräfte in der Pflege. (Symbolbild) Foto: Sebastian Kahnert/DPA
Die Bevölkerung wird älter - auch in Tübingen. Die Stadt braucht mehr Fachkräfte in der Pflege. (Symbolbild)
Foto: Sebastian Kahnert/DPA

TÜBINGEN. »Das Stadtbild wird als jung wahrgenommen«, gab Sozialbürgermeisterin Gundula Schäfer-Vogel ihren ganz persönlichen Eindruck im Rathaus wieder. Und tatsächlich: Jeder dritte Tübinger studiert, ist zwischen 20 und 35 Jahre alt, verlässt aber die Stadt nach Studienabschluss. Die Zahl älterer Menschen, die in Tübingen bleiben, ist stark angestiegen: Waren 2017 noch 5.000 Menschen zwischen 75 und 85 Jahre alt, so sind es heute fast 8.000.

»Die Stadtverwaltung will den Bedarf der Älteren sichtbar machen«, sagte Schäfer-Vogel vor Gemeinde- und Ortschaftsräten und legte eine Statistik vor, die der demografischen Entwicklung Deutschlands gleicht, in einem Punkt aber abweicht: Tübingen hat nach Baden-Baden mit 83 Jahren die höchste Lebenserwartung. Allerdings steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen - bei den ab 65-Jährigen seit 2017 um 65 Prozent.

Zahl der Pflegebedürftigen steigt

Ein Teil des Anstieges beruht auf dem neu geschaffenen Pflegegrad 1, durch den weit mehr Menschen Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. Um den Zuwachs durch Pflegegrad 1 bereinigt, liegt der Anstieg immer noch bei 17 Prozent. Die Zahl der über 65-Jährigen, die stärker pflegebedürftig sind (Grad 2 bis 5), dürfte von heute rund 2.500 bis 2035 auf rund 3.150 steigen, schätzt die Verwaltung.

Deshalb plane die Stadt »umfangreiche Platzzuwächse«, vor allem in Pflege-WGs. Schwierig wird die Suche nach Trägern, denn keiner will aktuell solche Einrichtungen bauen. Das liegt an den gestiegenen Baukosten, den langwierigen Verfahren, aber auch am fehlenden Pflegepersonal. Der Fachkräftemangel dürfte noch schlimmer werden: In den nächsten Jahren gehen bundesweit 250.000 Pflegekräfte in den Ruhestand. Dazu kommt die interne Konkurrenz in Tübingen: Das Universitätsklinikum (UKT) zahlt gut, manchmal sogar besser als andere Einrichtungen. Klar, dass viele Pflegekräfte ans UKT gehen.

Herausforderung ab 2030

Schäfer-Vogel erwartet, dass bis 2035 etwa 760 Langzeitpflegeplätze benötigt werden, ab Anfang der 50er Jahre über 1.000 Plätze - fast doppelt so viele, wie heute verfügbar sind. »Gelingt es, den angestrebten Platzzuwachs umzusetzen, so wäre bis Ende der 30er Jahre eine gute Versorgungslage erreicht«, heißt es aus Schäfer-Vogels Abteilung. Sprich: Bis 2030 ist Tübingen gut aufgestellt. Ab 2030 steigt ber Bedarf überproportional, weil dann die Babyboomerwelle ins Pflegealter kommt.

Junge Menschen, wohin man schaut, selbst die Fitnessstudios platzen aus den Nähten.  Doch der Schein trügt: Tübingen hat mit der
Junge Menschen, wohin man schaut, selbst die Fitnessstudios platzen aus den Nähten. Doch der Schein trügt: Tübingen hat mit der demografischen Entwicklung zu kämpfen. Foto: Hans Jörg Conzelmann
Junge Menschen, wohin man schaut, selbst die Fitnessstudios platzen aus den Nähten. Doch der Schein trügt: Tübingen hat mit der demografischen Entwicklung zu kämpfen.
Foto: Hans Jörg Conzelmann

Das Dilemma: Zugleich sind durch den Übergang der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand immer weniger Menschen berufstätig. Dazu kommt der steigende Fachkräftemangel, obwohl die Entlohnung gestiegen ist. Der Eigenanteil für die stationäre Pflege wird deshalb steigen. Er liegt dezeit bei 3.500 bis 4.200 Euro pro Monat. Dennoch, so lautet die Prognose, entstehen in den nächsten zehn Jahren 250 weitere Plätze.

Die Stadt will »Sozialräume« für Ältere stärken. Dazu gehören auch Plätze, auf denen sich Senioren treffen können. Die Altstadt,
Die Stadt will »Sozialräume« für Ältere stärken. Dazu gehören auch Plätze, auf denen sich Senioren treffen können. Die Altstadt, hier die Marktgasse, gehört sicher auch dazu. Foto: Conzelmann
Die Stadt will »Sozialräume« für Ältere stärken. Dazu gehören auch Plätze, auf denen sich Senioren treffen können. Die Altstadt, hier die Marktgasse, gehört sicher auch dazu.
Foto: Conzelmann

In Zukunft werden mehr Menschen zuhause gepflegt, was dem natürlichen Bedürfnis entgegenkomme. Dafür warb Schäfer-Vogel: Ältere Menschen sollen so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung bleiben können. In einer »Pflegestrategie« für Tübingen wird der Ausbau von Pflege-Wohngemeinschaften in Aussicht gestellt. Die WGs sollen von der Stadt sogar unterstützt werden. Von ihnen gibt es heute bereits fünf, in denen jeweils acht bis zwölf Menschen wohnen.

Freie Plätze in der Tagespflege

Die Sozialbürgermeisterin warb gleichzeitig für die Tagespflege. Hier ist aktuell das Pozenzial nicht ausgeschöpft, es gibt freie Plätze. Die zu Pflegenden werden morgens abgeholt und abends wieder nachhause gefahren. So erhalten sie eine verlässliche Tagesstruktur mit gemeinsamen Aktivitäten. Trotz aller Hilfestellungen der Stadt: »Die Eigenverantwortung wird steigen.« Die Priorität sei, so lange zuhause zu wohnen wie möglich. Demnächst soll es eine eigene Werbeveranstaltung für die Tagespflege in Tübingen geben.

Gestärkt werden sollen auch »Sozialräume« in den einzelnen Quartieren, in denen sich Ältere treffen können. Dazu gehören alle räumlichen Möglichkeiten der Begegnung. Doch der Impuls müsse von den Menschen selbst kommen: Die Bereitschaft zum Gespräch gehöre dazu, und allein schon das Grüßen sei ein kleiner Anfang. (GEA)