TÜBINGEN. Die Geschichte ist nicht mehr ganz neu, aber wenn Nils Goldschmidt sie wieder einmal erzählt, muss er immer noch schmunzeln. Als seine damals noch kleine Tochter gefragt wurde, wo ihr Papa arbeitet, antwortete sie: »Im Zug.« Und meinte damit nicht, dass er Lokführer oder Schaffner ist, sondern dass er viel mit der Bahn unterwegs ist und die Zeit im Zug nutzt zum Arbeiten, vor allem zum Schreiben. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, nur dass vom heimischen Siegen aus gesehen das Ziel seit 1. Februar ein neues ist: Tübingen.
Seit gut zwei Monaten ist Dr. Nils Goldschmidt, Professor für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung, als Nachfolger von Professor Ulrich Hemel Direktor des Weltethos-Instituts, zu 80 Prozent abgeordnet von der Universität Siegen an die Universität Tübingen. Und schon sagt er: »Ich habe das Gefühl, dass ich hier am richtigen Ort bin.« Hier, Hintere Grabenstraße 26.
Angekommen nach einer Kindheit und Jugend im ostwestfälischen Höxter, nach Zivildienst und Studium in Freiburg, zunächst katholische Theologie, dann parallel noch Wirtschaftswissenschaften, jeweils mit dem Diplom als Abschluss. »Ich bin dann bei der Wirtschaft geblieben, habe mich aber immer mit Fragen der Ethik beschäftigt«, erzählt der 54-Jährige, der auch Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und seit Oktober 2024 auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist.
Theologie und Wirtschaftswissenschaften – das spiegelt sich in dem Begriff »kontextuale Ökonomik«. Goldschmidts Blick richtet sich nicht nur auf Umsätze und Renditen: »Wirtschaft findet nicht im luftleeren Raum statt. Mich interessiert, was mit den Menschen passiert, wie Wirtschaft die Gesellschaft beeinflusst und umgekehrt, wie sich Wirtschaft verändert und welche Auswirkungen das auf die Gesellschaft hat.«
Raum für Optimismus und Mut
Das passt. Das Institut, das auf den Theologen Hans Küng zurückgeht, will Werteorientierung und Dialog, will das Vertrauen in Wirtschaft und Gesellschaft fördern. Es beschäftigt sich, wie es in seiner Beschreibung heißt, mit der Frage, unter welchen Bedingungen wir »in kultureller, weltanschaulicher und religiöser Vielfalt miteinander auf einer bewohnbaren Erde überleben und unser individuelles wie soziales Leben human gestalten« können.
Und wie geht es Nils Goldschmidt mit diesen Ansprüchen, wenn er die täglichen Nachrichten hört? »Wir leben gerade in einer Welt mit massiven Umbrüchen. Jeder sieht die Gefahren, die militärischen, die ökologischen und den brüchigen inneren Frieden. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?« Die Antwort kann für Goldschmidt nicht lauten: Es hat keinen Sinn mehr, es geht alles den Bach runter. Aus seiner Sicht kann sie nur lauten: »Wir müssen die Welt anders sehen und gestalten.«
Als Jugendlicher habe er das Gefühl gehabt, dass das Leben ein ruhiger Fluss ist, dass es nahezu linear verläuft, ohne große Ausschläge trotz des Kalten Kriegs. »Jetzt müssen wir lernen, dass sich die Dinge radikal und schnell ändern können. Das haben wir lange nicht erlebt. Wir können nicht mehr linear denken, sondern sollten verstehen, dass alles kippen kann.«
Dabei helfe es nicht, sich auf die Katastrophe zu fokussieren. »Wir müssen uns fragen, was wir machen können. Und wir können sehr viel machen. Wir müssen handeln, und dafür brauchen wir Optimismus.« Das Weltethos-Institut zu gestalten als Raum für Optimismus und Mut, darin sieht Goldschmidt einen Teil seiner Aufgabe.
»Wir vergessen schnell, was wir erreicht haben. Aber wir müssen sehen«, sagt er, »was wir an Gutem haben.« Ein Beispiel ist aus seiner Sicht mit Blick auf den Klimawandel der Emissionshandel für Kohlendioxid. »Wenn wir zeigen können, dass sich auf diesem Weg Klimaschutz mit wirtschaftlicher und sozialer Stabilität erreichen lässt, kann Europa die Benchmark sein. Wir können zeigen, dass wir Dinge verändern können und nicht nur Getriebene sind.«
Bei all den krisenhaften Baustellen ist für Nils Goldschmidt die zentrale Aufgabe zu verstehen, was den sozialen Zusammenhalt bedroht. »Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist keine Sozialromantik, sondern ein harter ökonomischer Faktor. Das deutlich zu machen ist meine Mission.« Viele Menschen hätten im Moment das Gefühl, nicht selbst Teil einer gesellschaftlichen Entwicklung zu sein, sondern vieles vorgesetzt zu bekommen. »Wir müssen verstehen, dass es gute Gründe gibt, dass andere Menschen anders auf die Welt schauen und unterschiedliche Lebensmodelle haben.«
Gerade habe eine aktuelle Studie gezeigt, dass Langzeitarbeitslose mitgenommen und Teil dieser Gesellschaft sein wollen. Bei der Diskussion über das Bürgergeld dürfe deshalb nicht unterstellt werden, dass alle Bürgergeldempfänger nicht arbeiten wollen. Das sei falsch angetriggert worden, und falsch sei auch, dass nur über den monetären Aspekt diskutiert werde. Die Menschen wüssten oft nicht, wie sie in den Arbeitsmarkt zurückkommen könnten, und das sei wichtiger als die Diskussion über ein paar Euro mehr oder weniger.
»Die ökonomische Glücksforschung zeigt: Es gibt kaum etwas, was die Menschen dauerhaft unglücklicher macht als Arbeitslosigkeit«, sagt Goldschmidt und verweist auf ein vor wenigen Tagen veröffentlichtes Papier der Deutschen Bischofskonferenz, an dem er mitgearbeitet hat. In dem Text mit dem Titel »Die versöhnende Kraft von Arbeit« geht es darum, dass Arbeit eben nicht nur Broterwerb ist, sondern wichtig für das Gemeinwohl.
Lehrangebote für Studierende
Für all diese Fragen sieht Goldschmidt das Weltethos-Institut als Raum zum Nachdenken, als Ort des Dialogs, von dem aus Ideen in die Öffentlichkeit getragen werden. »Das Institut muss vibrieren. Wir müssen hör- und spürbar sein«, ist Goldschmidts Ziel. »Dann können wir von Tübingen aus Diskurse mit besetzen.«
Dazu gehören öffentliche Veranstaltungen wie das Studium generale, Lehrangebote für Studierende aus den verschiedensten Fachrichtungen wie Wirtschaft oder Philosophie, eigene Beiträge in der Forschung – »das müssen wir weiter ausbauen« – oder Projekte wie das Ambassador-Programm, bei dem Führungskräfte aus der Wirtschaft mit den Weltethos-Gedanken vertraut gemacht werden. »Dafür muss das Institut hier in der Stadtgesellschaft verwurzelt sein. Das ist sehr wichtig.« (GEA)