Logo
Aktuell Sport

Nationaltrainer im Klettern in Tübingen: Spaß an der »Erstbeschraubung«

Japans Boulder-Nationaltrainer Benjamin Hartmann entwirft 80 neue Routen in der Kletterhalle B12 in Tübingen.

Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen: Benjamin Hartmann (41) schraubt Griffe an die Kletterwand.
Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen: Benjamin Hartmann (41) schraubt Griffe an die Kletterwand. Foto: Hans Jörg Conzelmann
Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen: Benjamin Hartmann (41) schraubt Griffe an die Kletterwand.
Foto: Hans Jörg Conzelmann

TÜBINGEN. »Mit Seil und Haken, alles zu wagen, hängen wir in steiler Wand - Pustekuchen.« Bevor das alte Bergsteigerlied erklingen kann, kommt in der Boulder- und Kletterhalle B12 erst mal der Akkuschrauber zum Einsatz. Ihn betätigt ein alter Bekannter der Tübinger Kletterszene: Benjamin Hartmann, Nationaltrainer der weltweit dominierenden Japaner im Boulder- und Klettersport. Schon 2014 hatte er in der neu eröffneten Halle die ersten Schrauben gesetzt, an Routen getüftelt und Überhänge ausprobiert. Jetzt ist der Star des Routenbaus wieder in der Stadt, um 80 neue Kletterrouten zu kreieren.

»Die Erstbeschraubung macht riesigen Spaß«, beschreibt Hartmann das Gefühl, die nackte Wand mit bunten Griffen zu bestücken. Es gilt Schwierigkeitsgrade festzulegen, Schikanen einzubauen, Griff- und Trittformen auszuwählen - man spricht in Fachkreisen von der »Textur« einer Route. Gelernt hat Hartmann das Routenbauen beim Klettern selbst: Er ist seit Kind auf begeisterter Sportkletterer und Boulderer, der in Schwierigkeitsgraden bis 8b+ klettert - nur eine handvoll Sportler sind besser.

Nicht in Stein gemeißelt

Dabei ist Hartmann in Weil der Stadt aufgewachsen, das nicht eben durch alpines Gelände glänzt. Er spricht schwäbisch, hat Familie, mit der er in Erlangen lebt. Wenn er nicht gerade auf Weltcup-Reise mit seinen japanischen Schützlingen ist. Das ist mehrere Monate im Jahr der Fall - von November bis März. Deshalb kennt er die Kletterszene und die verschiedenen Stile des Routenbaus. Und deshalb schätzen ihn die Tübinger: »Benni schaut über den Tellerrand hinaus«, sagt Manfred Aberle, Geschäftsführer des B12. »Es ist gut, einen Profi wie ihn an der Seite zu haben.«

Für den Profi ist Tübingen eine zweite Heimat. Vielleicht sind die Jugendlichen deshalb so motiviert und tun sich regelmäßig bei landesweiten Wettkämpfen hervor. Mit einem »Kidscup« soll der neue Bereich der Kletterhalle denn auch am 9. und 10. November eröffnet werden. Freizeitsportler dürfen schon ab Mitte Oktober rein und finden viel Neues.

Denn die alten Routen sind nicht in Stein gemeißelt. Alle acht Wochen werden sie »umgeschraubt«, um immer wieder neue Herausforderungen zu bieten. Kreativität ist gefragt: »Wir haben drei Tage lang nur an der Auswahl der Griffe gearbeitet«, sagt Aberle. Es gibt 20 Firmen, die unterschiedliche Klettergriffe im Sortiment haben.

Warten aufs Beschrauben: Scheinbar wahllos hängen die Griffe später in der Wand.  Doch ihre Abfolge ist ein ausgeklügeltes Syste
Warten aufs Beschrauben: Scheinbar wahllos hängen die Griffe später in der Wand. Doch ihre Abfolge ist ein ausgeklügeltes System. Foto: Hand Jörg Conzelmann
Warten aufs Beschrauben: Scheinbar wahllos hängen die Griffe später in der Wand. Doch ihre Abfolge ist ein ausgeklügeltes System.
Foto: Hand Jörg Conzelmann

Wer das verstehen will, kann sich in Hartmanns eigenes Sortiment vertiefen. Mit seinem Brunder Jonas, ein gelernter Maschinenbauer, bringt er Griffe und Tritte auf den Markt, die besonders nachhaltig sein sollen. Das Angebot umfasst 116 Sets, die in vier Serien aufgeteilt sind. Allein die Beschreibung der Serie »Nature« zeigt die Philosophie, die dahintersteckt. Die Ware soll das unverfälschte Erlebnis vermitteln, »seine Hände an Millionen Jahre alten, von der Natur geshapten Fels zu legen, den Griff zu lesen, sich Zeit zu nehmen und sich konsequent damit auseinander zu setzen«.

Langlebigkeit als Ziel

Denn billiges Plastik war gestern. »Wir möchten zeigen, dass es echte Alternativen gibt«, sagt Hartmann, der sich lange mit Werkstoffkunde und Kunststofftechnik beschäftigt hat. Seine Wahl fiel auf Polyurethan, ein Kunstharz, der durch Härte, Abriebfestigkeit, Oberflächenstruktur und Abformgenauigkeit besticht. Langlebigkeit und Wiederverwertbarkeit sind das erklärte Ergebnis.

Man sieht: Das Routenbauen ist eine komplexe Aufgabe. Eine der Tübinger Mitstreiter, Moritz Stoll, beschreibt die herkömmliche Methode so: »Wir schrauben alles ran und schauen, ob's funktioniert.« Leider kann die naive Herangehensweise vor den Augen des Profis selten bestehen. »Wenn Benni reinkommt, sieht er auf den ersten Blick, was falsch ist«. Dann muss der Akkubohrer wieder rückwärts schrauben.

Die Halle feiert in diesem Jahr ihren zehnten Geburtstag und ist dem Ansturm nicht gewachsen. Die ursprünglich geplante Gästezahl von rund 35.000 Personen pro Jahr lag 2023 bei 95.000. Die Routen für die Boulderer verdoppeln sich durch den Anbau auf insgesamt 200, die Anlage bekommt im Innenbereich mehr Licht und Luft. Im Außenbereich bekommen die Seilkletterer 25 neue Linien. Bis zu 17,5 Meter geht es an der südseitig gelegenen Wand hoch hinauf – perfekt, um schon im Frühjahr oder im Herbst den Sport an der frischen Luft zu betreiben. (GEA)