MÖSSINGEN-BELSEN. Ein Kilometer, zwei Minuten. Um diese Faktoren verlängert sich künftig die Fahrzeit für motorisierte Verkehrsteilnehmer, die von Bästenhardt in den Nachbar-Stadtteil Belsen fahren möchten. Denn der direkte Weg, die Albblickstraße, wird auf Höhe der Eisenbahnbrücke auf 160 Metern zur Einbahnstraße.
An der Unterführung geht es künftig nur noch nach links in die Sackgasse zum Ernwiesenstadion mit der Sportheimgaststätte und den Altglascontainern.
Oder nach rechts, über die Öhrnbachstraße. Das wird ab Anfang Januar die Umleitungsstrecke für die stark frequentierte Fahrt in den Süden sein. In Gegenrichtung, von Belsen nach Bästenhardt, kann der Verkehr die Albblickstraße weiterhin nutzen. Radfahrer auf dem für sie zur Mitbenutzung erlaubten Fußweg dürfen nach wie vor in beide Richtungen unterwegs sein. Für Lkws und Busse war die Straße als Durchgangspassage sowieso gesperrt.
Umleitung ab Januar
Autofahrer müssen also ab der zweiten Jahreswoche den neuen Umweg einplanen – die Strecke über den Bahnübergang nehmen, dann über die Mössinger Straße ins Belsener Unterdorf. Von wo es dann gegebenenfalls weiter über den »Südring« geht.
Wer von den Einkaufszentren im Gewerbegebiet nach Belsen will, ist mit der kaum längeren Route durch den Rathaustunnel sowieso schneller. Man spart entgegen der Strecke durch die stark frequentierte und beparkte Albblickstraße nicht nur Nerven, sondern im Schnitt auch eine Minute Zeit.
Die Einrichtung der Einbahnstraße hängt mit dem geplanten Neubau der Bahnbrücke am Ernwiesenstadion zusammen. Weil der Durchlass seit dem 4. März 2024 gesperrt ist, hat sich der Verkehr in die Albblickstraße verlagert, vervielfacht und zur einer Hauptverbindungsstraße entwickelt. Die Anwohner in dieser Wohnstraße hatten sich bald darauf an die Stadt gewandt, weil es laufend zu gefährlichen Situationen gekommen war.
Täglich Beinahe-Unfälle
Denn die Albblickstraße ist sowohl im Kreuzungsbereich der Bahnunterführung sowie an der eng-kurvigen Einmündung an der Mössinger Straße nicht nur schwer einsehbar. Sie ist auch – gewollt verkehrsberuhigt – viel zu schmal, als dass zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikommen. Ein Wagen muss im Begegnungsverkehr stets auf den Fußweg ausweichen, der nur optisch von der Fahrbahn getrennt ist. Fußgänger und Radfahrer müssen dann zur Seite ausweichen oder es auf Tuchfühlung mit den Autos ankommen lassen – ein Unding. Zumal die Behörde in der anderthalb Kilometer entfernten Breite Straße neuerdings das Überholen von Fahrrädern mit Bußgeld bestraft, weil der Sicherheitsabstand von 1,5 Metern nicht eingehalten werden kann.
Aus dem bereits haarsträubenden Zustand wurde ein hochgefährlicher. Täglich sieht man Beinahe-Unfälle, insbesondere wenn die Gruppen mit Schülern, die zwischen der Oberdorf- und der Bästenhardt-Schule pendeln, unterwegs sind: »Früher fuhren zwei Autos aneinander vorbei, jetzt sind es zu Stoßzeiten Kolonnen, die sich einander ausweichen«, sagt Elisabeth Koller, die hier mit ihrem Mann ein Zweirad-Geschäft betreibt.
Wer von Mössingen kommend in die Albblickstraße abbiegen will, muss »blind« in die Kurve fahren und hoffen, dass keine Fußgänger entgegenkommen. Erschwerend hinzugekommen ist, dass im Frühjahr im Eckgebäude zur Mössinger Straße ein Kebab-Imbiss eröffnet hat. An- und abfahrende Gäste- und Lieferautos machen die Einmündung zur unübersichtlichsten im ganzen Stadtgebiet. »Wenn zu unserem Kundenverkehr noch ein Lieferwagen Ware ablädt, ist das Chaos perfekt«, so Koller.
Die Anwohner haben die Gefahr bald erkannt. Sie schlugen der Verwaltung bereits im Frühjahr die Einrichtung einer Einbahnstraße vor. Auch die Rückstufung der 30er-Zone in einen verkehrsberuhigten Bereich wäre aus ihrer Sicht eine Sofortlösung gewesen.
Neun Monate Bearbeitung
Nachfragen blieben aber unbeantwortet. Im August gab es eine Art Petition an Bürgermeister Martin Gönner. Womöglich hatte man auf dem Rathaus gehofft, die Situation würde sich unbürokratisch von selbst erledigen, wenn die Deutsche Bahn wie geplant im Dezember 2024 die neue Ernwiesen-Brücke eingebaut und der Verkehr wieder durch das Sträßle fließen würde. Doch im Sommer hat die Bahn nach Problemen mit Bauunternehmen die Baustelle eingestellt und bis auf die mit Kies zugeschüttete Unterführung alles abgeräumt. Anfragen, wann es weitergehen könnte, lässt die DB-Pressestelle unbeantwortet.
Im Herbst wurde deshalb auf dem Rathaus weiter nachgehakt, Gemeinderäte unterstützten die Anwohner. Es hat dann neun Monate gebraucht, bis die Verkehrsbehörde in der Stadt Handlungsbedarf sah. Im Januar heißt es also hoffentlich: Gefahr gebannt.
Dann wird eine »unechte Einbahnstraße« eingerichtet. Damit werden die Mössinger binnen kurzer Zeit mit einer weiteren exotischen Maßnahme aus der Straßenverkehrsordnung konfrontiert. Ende Oktober wurden in der Breite Straße vier »Überholverbot der Zweiräder«-Schilder aufgestellt. Ein Verkehrszeichen, dass es erst seit 2020 gibt und so gut wie unbekannt ist – und in diesem Bereich auf keine Akzeptanz stößt.
Unechte Einbahnstraße auf 160 Metern
In eine »unechte Einbahnstraße« darf man, wie in einer normalen Einbahnstraße, nur aus einer Richtung einfahren. In unserem Fall nur von der Mössinger Straße her. Es fehlt jedoch das blaue Pfeil-Querzeichen »Einbahnstraße«. Hingegen am Ende, unter der Bahnbrücke, wird das rote Schild mit weißem Querbalken »Verbot der Einfahrt« aufgestellt. Daraus folgt: In dem 160 Meter langen Abschnitt dürfen Anwohner und Kunden wenden, in beide Fahrtrichtungen fahren, aber nur am rechten Fahrbahnrad parken. »Im Gegensatz zur echten Einbahnstraßenregelung ist eine Ausfahrt in beide Richtungen zulässig«, so die Stadtverwaltung. Diese Regelung wird zunächst anhand einer mehrwöchigen Testphase erprobt.

Die Albblickstraße und das Ernwiesensträßle sind Stiefkinder des Wegenetzes. Sie sind mit der Ortsentwicklung nicht mitgewachsen. Der südliche Teil der heutigen Albblickstraße entlang des Bachlaufs bis zur Bahnunterführung hieß früher Froschgasse. Als man 1960 in Bästenhardt die ersten 35 Bauplätze erschloss, wurde er zusammen mit der nördlich der Bahnlinie verlaufenen Ernbachstraße zur Albblickstraße zwar verlängert – aber künstlich schmal gehalten.

Das 500 Meter lange Ernwiesensträßle ist eigentlich ein namenloser Feldweg, der – ohne Unterbau – immer wieder geteert und geflickt, aber nie erschlossen wurde. Als mithin ältester urkundlich genannter Weg, ist er bereits im frühen 15. Jahrhundert als Viehtrieb der Belsener in den Weidewald, den mit Böschen bewachsenen Hardt (Bästenhardt), genannt. Seine Ausbaupläne sind so alt wie die der B 27. Er war als Zubringerstraße für einen Sportpark gedacht, den Mössingen, erfasst von der bundesweiten Olympia-Begeisterung 1972, in den Ernwiesen anlegen wollte. Womöglich liegen die Pläne noch in der Schublade. (GEA)