MÖSSINGEN. Vor 50 Jahren, am 1. September 1974 begann Rolf Steinbrenner seine Ausbildung bei der Deutschen Bahn. »Das war das Beste, was mir passieren konnte«, sagt Rolf Steinbrenner heute rückblickend. Als neuntes von zehn Kindern kam er als Sohn eines Eisenbahners am 21. Juni 1959 in Oberschmeien (Sigmaringen) auf die Welt. »Ich bin also schon im Bahnhof geboren«, erklärt er lachend.
Im August 1962 zog die Familie um in den Bahnhof nach Engstlatt. »Eigentlich wollte ich ja Fernmeldetechniker werden«, meint er, »mich haben als Jugendlicher die vielen Kabel fasziniert, wenn die Techniker zur Inspektion im Bahnhof vorbeikamen.«
Sein Vater habe ihm geholfen bei der Suche nach einer Lehrstelle, dafür ist der Fahrdienstleiter ihm bis heute dankbar. Im ersten Lehrjahr nannte er sich »Azubi Aspirant« und durchlief bis zum Ende der Ausbildung alle Stationen bei der Bahn, bevor er sich Bundesbahnbetriebsaufseher nennen durfte.
»Früher hat man alles gelernt, das war eine breite Ausbildung, heute lernt man nur eine Sache«
Er kennt sich daher bis heute bestens in allen Bereichen aus. Expressdienst, Güterabfertigung, Rangierdienst, Fahrkartenverkauf, Kassendienst, Gleisbau: »Früher hat man alles gelernt, das war eine breit angelegte Ausbildung, heute lernt man nur eine Sache. Das ist schade, denn heute weiß der Fahrdienst nicht, was der Lokführer tut und umgekehrt«, meint der 65-Jährige.
Nach seiner Ausbildung war er zehn Monate am Rangierbahnhof in Kornwestheim und danach elf Monate beim Hechinger Stellwerk und im dortigen Expressdienst, anschließend ging es 15 Monate zur Bundeswehr. Nach dem Wehrdienst setzte man ihn in verschiedenen Stellen zwischen Ebingen und Dußlingen ein, »Springer oder Ablöser nannte sich das, man war für alles zuständig. Das war eine tolle Zeit und es hat Spaß gemacht, unterwegs zu sein.« Wohnhaft in Bisingen, fuhr er die Strecke nach Ebingen immer mit dem Fahrrad.
Im Herbst 1980 war Steinbrenner das erste Mal in Mössingen, 1988 machte er die Prüfung zum Fahrdienstleiter. »Dabei war Mössingen am Anfang gar nicht mein Bahnhof«, erinnert er sich. Heute, 44 Jahre später, mag man sich den Bahnhof ohne den fröhlichen Rolf gar nicht mehr vorstellen. Anfangs war er mit den Fahrgästen per Sie, mittlerweile kennt beinahe jeder Pendler »den Rolf vom Bahnhof«.
Irgendwann fiel es dem Rolf nämlich auf, zumeist Montag morgens gegen fünf Uhr, dass die Leute missmutig und schlecht gelaunt am Bahnhof standen und eines Tages dachte er sich: »Ich muss Abhilfe schaffen« – griff sich das Mikrofon und durch den dunklen Morgen schallte es fröhlich aus den Bahnhofslautsprechern: »Einen wunderschönen Guten Morgen, liebe Mitreisende.« Das kam gut an bei den Wartenden, die Gesichter hellten sich auf und fortan hatte Rolf Steinbrenner immer einen Guten-Morgen-Spruch für die Bahngäste parat.
Die Lautsprecher gibt es schon eine Weile nicht mehr, auch Fahrkarten verkaufen und Schülermonatskarten von Hand ausfüllen muss er nicht mehr. Die Digitalisierung hält ihn aber nicht auf Abstand zu den Leuten. »Ich wollte immer nah bei den Menschen sein, auf dem Bahnsteig.« Hätte er eine Gehaltstufe aufsteigen wollen, hätte er nach Tübingen müssen. »Dann wäre ich im Turm gesessen und hätte Knöpfe gedrückt. Das wollte ich nie.« Geld ist eben nicht alles.
Für den Termin mit dem GEA hat Steinbrenner seine alte Uniform nebst Krawatte und roter Mütze ausgepackt, sie passt ihm immer noch, fesch sieht er aus mit den kurzen Jeans darunter. Die Uniform muss er schon lange nicht mehr tragen. Vieles hat sich in den 50 Jahren verändert, seitdem er bei der Bahn ist.
»Dann wäre ich im Turm gesessen und hätte Knöpfe gedrückt. Das wollte ich nie«
Nur eines ist schon seit 1956 in Mössingen gleich geblieben: Das Stellwerk. Der Untergrund ist sogar von 1922, Techniker haben ihn gebraucht eingebaut. In den 1990er-Jahren wurde alles modernisiert. Ein mechanisches Stellwerk hält rund 100 Jahre, ein elektrisches gerade einmal 15. »Ein mechanisches Stellwerk ist zwar zuverlässig, dafür aber wartungsintensiv«, erläutert der Fahrdienstleiter.
Einmal im Jahr inspizieren Techniker mehrere Tage die Mechanik. Die große Hebelbank mit den roten und blauen Hebeln sind mit Weichen und Signalen über Drahtseile verbunden, im Keller läuft alles zusammen wie bei einem Flaschenzug. Hier ist Muskelkraft gefragt. Bei der Einfahrt eines Zuges werden Hebel gedrückt, mit einer Kurbel wird dafür gesorgt, dass kein zweiter Zug hinterherfährt. Zehn Jahre müsse das Mössinger Stellwerk noch funktionieren, »dann kommt die Regionalstadtbahn und alles wird anders«.
Mit seiner herzlichen Art hat Rolf Steinbrenner nette Bekanntschaften und auch Freundschaften gefunden, an viele Begebenheiten erinnert er sich gerne zurück. Auch nach 20 Jahren werde er von Menschen wiedererkannt, die als Flüchtlinge nach Mössingen kamen und mittlerweile in ganz Deutschland beheimatet sind. Wenn sie Mössingen einen Besuch abstatten, dann ist ein Besuch bei Rolf am Mössinger Bahnhof obligatorisch.
Da ist das Mädchen aus dem Kosovo, der er in den 1990er-Jahren ein Fahrrad besorgte, die jetzt als erwachsene Frau gerne zurück kommt. Oder der syrische Arzt von 2015, der mit Mutter, Frau und Kindern nach Mössingen kam und jetzt in Offenburg in seinem Beruf arbeitet. »Sogar die über 70-jährige Mutter spricht mittlerweile Deutsch«, zeigt sich Steinbrenner verblüfft.
Nicht so gerne erinnert er sich an einen Unfall 1991 bei welchem junge Frauen über die Gleise rannten und schwer verletzt wurden. Oder den Überfall mit Pistole 1997, bei welchem nach der schnell eingeleiteten Fahndung auf dem Mössinger Campus bei sieben Jugendlichen acht Schusswaffen sichergestellt werden konnten.
»Um null Uhr dreh’ ich dann das letzte Mal den Schlüssel rum«
Am 29. August hat Rolf Steinbrenner nach 50 Jahren seinen letzten Arbeitstag. »Um null Uhr dreh ich das letzte Mal den Schlüssel rum«, erklärt er und ein wenig Wehmut klingt in der Stimme mit. Aber langweilig wird ihm sicher nicht.
Er hat vier Kinder (der jüngste Sohn arbeitet ebenfalls bei der Bahn) und fünf Enkelkinder. Er singt im Liederkranz Belsen, er ist Mitglied bei den Zollernfreunden und er hält sich nach einem Herzinfarkt fit in der Herzsportgruppe Hechingen. Außerdem wohnt er nicht weit vom Bahnhof, und in der dortigen Wohnanlage ist er nun seit anderthalb Jahren Hausmeister. Ein Traumjob für einen Menschenfreund, dem kein Schicksalsschlag den Glauben an das Gute austreiben kann. (GEA)