TÜBINGEN. Stirnrunzeln bei der Gerichtspsychologin Dr. Ursula Gasch: Stimmt die Diagnose des Psychotherapeuten, der das vermeintliche Vergewaltigungsopfer derzeit betreut? Er war als Zeuge geladen und beschrieb das Krankheitsbild seiner Patientin als »komplexe Traumafolgestörung«. Dazu aber hätte es mehrere Traumata bedurft, die der Psychotherapeut aber nicht benennen konnte, weil er darüber mit seiner Patientin noch gar nicht gesprochen hatte. Gerichtspsychologin Gasch wird am 26. November ihre Eindrücke schildern, die sie in dem langwierigen Prozess bisher gewonnen hat.
Wie berichtet, wird einem anderen Psychotherapeuten vorgeworfen, seine Patientin an der Uniklinik Tübingen vergewaltigt zu haben. Kern des Prozesses ist nicht die Frage, ob ein sexuelles Verhältnis bestand - das hatte der Angeklagte bereits eingeräumt. Im Raum steht die Frage, ob der Sex einvernehmlich war. Dass die Patientin schwer beschädigt ist, bestätigte der geladene Psychotherapeut, der bis 2015 ebenfalls an der Uniklinik Tübingen gearbeitet hatte und den Angeklagten kennt. Sie sei eine »schwer gestörte Frau«, die er versuche, »am Leben zu erhalten«.
Therapie derzeit nicht möglich
Er sehe einen Menschen vor sich, der einerseits »herzlich und kindlich« sei, andererseits ständig um das eigene Selbst ringe. Gründe dafür seien der belastende Prozess, aber auch das völlige Fehlen von Hobbys, Bezugspersonen und Zielen. Einen Partner hatte die 35-jährige Patientin laut eigener Aussage noch nie, dafür drei Kinder und keinen Beruf. Eine richtige Therapie sei derzeit mit der Patientin gar nicht möglich, sagte der Therapeut. Er versuche lediglich, das Feld für eine Therapie vorzubereiten - »mit möglichst wenigen Selbstverletzungen, denn einer toten Patientin kann ich nicht helfen«.
Die Beraterin von »Pro Familia« berichtete von einem weniger desolaten Zustand, hatte allerdings auch hauptsächlich vor der fraglichen Nacht mit dem vermeintlichen Opfer zu tun. Die Sozialpädagogin schilderte ihre Klientin als »verantwortungsbewusste Frau«, die ihre drei Kinder zurückhaben wollte. Das Sorgerecht war ihr vom Jugendamt entzogen worden. Mehrere Suizidversuche folgten, bis sie von dem Mann behandelt wurde, der nun auf der Anklagebank sitzt.
Nachdem das Therapieverhältnis mehr und mehr ins Private abgeglitten war und es zum Geschlechtsverkehr gekommen war, habe sie die Frau als »total durcheinander« wahrgenommen, sagte die Beraterin. Auch ihr habe sie im Detail von den Vorgängen berichtet, wie sie es mehrere Stunden lang vor Gericht getan hatte. Für die Beraterin stand der »sexuelle Übergriff« außer Frage. Die Patientin habe darum gebeten, aufzuhören, als der Therapeut Hand an sie legte. Schließlich sei die Schockstarre, in die das Opfer nach dem Verkehr gefallen sei, ein bekanntes Muster.
Erst ein halbes Jahr später, nachdem die Arzt-Patientin-Beziehung auf diesem Niveau weitergelaufen war, habe die Frau die Pille genommen. Mit Verhütung habe sie keine Erfahrung gehabt, vielmehr die naive Vorstellung von einem glücklichen Leben mit ihren drei Kindern, dem Partner und einem Hund im eigenen Haus. Eine darauf folgende Schwangerschaft wurde operativ abgebrochen, es folgten Komplikationen und eine weitere Operation. Der Therapeut habe sie jeweils begleitet, sei aber seiner Pflicht nicht nachgekommen, die Nacht über da zu sein. Vielmehr habe er die Frau »wie Dreck behandelt«. (GEA)

