KREIS TÜBINGEN. Steigende Flüchtlingszahlen führen zu emotional geführten Debatten über die Einwanderung. Die ist hierzulande ein Massenphänomen, denn jeder Vierte in Deutschland hat mittlerweile einen Migrationshintergrund. Eine neue Arbeit über die Besiedlung Mitteleuropas in der Fachzeitschrift »Plos One« weist nach, dass sich steinzeitliche Gruppen in drei Wellen von Afrika aufmachten, aber erst mit der dritten Welle vor 42.000 Jahren so viele moderne Menschen nach Europa kamen, dass sie sich fest ansiedeln und Netzwerke bilden konnten. Sie vermischte sich mit den Neandertalern, wovon nicht zuletzt die DNA in heute lebenden Menschen zeugt. Seither herrscht in Europa ein Kommen und Gehen: Kelten, Germanen, Römer, Alemannen in der Vor- und Frühzeit. Vertriebene nach dem Weltkrieg, Gastarbeiter, Aussiedler und aktuell wieder Kriegsflüchtlinge, unter anderem aus der Ukraine.
Mit Kupfer wurde experimentiert
Mal wieder. Gen- und Isotopenuntersuchungen der letzten Jahre erbrachten Nachweise für Einwanderungen aus den heute südrussischen Steppengebieten nach Mitteleuropa um etwa 3.000 vor Christus und deuten auf eine hohe Bevölkerungsdynamik während des Endneolithikums (dem Ende der Steinzeit) und dem Übergang zur Frühbronzezeit hin, in der überall im Kupfer experimentiert wurde.
Einem Team von Forschern vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Paleoenvironment (SHEP), der Arbeitsgruppe Paläoanthropologie an der Universität Tübingen und des Landesamts für Denkmalpflege (LAD) im Regierungspräsidium Stuttgart ist es mit Hilfe einer neuen Analysemethode erstmals gelungen, umfassendere Einblicke in die menschliche Populationsgeschichte zu gewinnen. Die Forschungen ergaben, dass zwischen 2.900 und 450 vor Christus »hochdynamische Interaktionen verschiedener Gesellschaften herrschten, die mehrere Migrations-, Beimischungs- und Umsatzereignisse beinhalten«.

Die Studie gründet auf der Untersuchung von Zähnen menschlicher Bestattungen. Im Zentrum der Studie stehen vier Gräberfelder der Zeit zwischen 2.800 bis 1.600 vor Christus aus dem Neckargebiet (Ammerbuch, Heilbronn, Remseck-Aldingen) und Tauberbischofsheim. Darunter die beiden größten Nekropolen der Neckargruppe, einer bislang kaum erforschten Regionalgruppe der Frühbronzezeit Südwestdeutschlands. Untersucht wurden 199 zahnmorphologische Merkmale, gesammelt aus 144 archäologischen menschlichen Überresten. Zwölf stammen aus Gräber, die in Ammerbuch-Reusten untersucht wurden.
Am Ende der Steinzeit treten die so genannten Becherkulturen in Erscheinung – die Schnurkeramiker und die Glockenbecherkultur, die man durch die verschiedenen Gefäßmuster unterscheidet. Grabungen im Herbst 2020 haben oberhalb des Reustener Kirchbergs mittelsteinzeitliche Siedlungsgruben und bandkeramische Siedlungsspuren aufgedeckt. Einer Frauenbestattung aus der frühen Bronzezeit in seitlicher Hockerstellung war der bislang älteste datierbare Goldfund in Südwestdeutschland beigelegt. Die Zusammensetzung des Spiralröllchens verweist aus Gold aus dem Fluss Carnon in Cornwall und nicht, wie bei älteren Goldfunden in Europa, aus Lagerstätten in Südosteuropa. Der Fund zeigt, dass westliche Kulturgruppen vor rund 3.800 Jahren offenbar wachsenden Einfluss auf Mitteleuropa nahmen.
Analyse von Zähnen vergleichbar mit genetischen Untersuchungen
Zurück zu den untersuchten Zähnen: Mit der neuen Analysemethode FLEXDIST können genetisch bedingte Ähnlichkeiten und Unterschiede der Individuen anhand spezifischer Zahnmerkmale ermittelt werden. »Möglich wird dies, da jeder Zahn unterschiedliche morphologische Merkmale wie etwa die Anzahl und Größe der Höcker von Backenzähnen aufweist«, erläutert Stephanie Lismann von der Universität Tübingen. »Sie sind vererbbar und können Aufschlüsse zur Biodistanz liefern, also wie ähnlich Individuen zueinander sind. Die Analyse dieser Zähne ist mit genetischen Untersuchungen vergleichbar«, so die Zweitautorin der Studie.
André Spatzier (LAD), Initiator und Seniorautor der Studie ergänzt: »Wir konnten nun mittels der neuen Methode eine ähnliche Bevölkerungsentwicklung am kulturgeschichtlichen Übergang von der Stein- zur Bronzezeit für einen Teil Südwestdeutschlands aufzeigen, der in dieser Hinsicht bisher von der Forschung ausgespart blieb«.
Kelten der frühen Eisenzeit setzen sich aus verschieden Bevölkerungsgruppen zusammen
Deren Ergebnisse belegen, dass es zwar eine generelle Kontinuität der damaligen Bevölkerung gab, aber die biologische Variabilität im Verlauf des dritten bis frühen zweiten Jahrtausends vor Christus abnahm. Dies sei wohl auf die Assimilation, also Anpassung von Bevölkerungsgruppen mit Abstammung von den altansässigen Neolithikern und jenen mit Steppenherkunft zurückzuführen.
Für die Kelten der frühen Eisenzeit zwischen 750 und 450 vor Christus lässt sich wieder eine deutlich größere Diversität feststellen, was auf vermehrte Bevölkerungsbewegungen zu jener Zeit oder ab etwa der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends hinweist. Zudem deutet sich eine erhöhte Mobilität einzelner Individuen vor dem Erreichen des Erwachsenenalters an, was beispielsweise durch Ziehkinder oder den Austausch von Partnern der Fall geworden sein könnte.
»Das Besondere an unserer neu entwickelten Methode ist, dass sie mit hochkomplexen und fragmentierten Datensätzen umgehen kann. Dadurch ist FLEXDIST nicht nur für die Paläoanthropologie relevant, sondern auch für zahlreiche andere Bereiche der archäologischen Forschung, wie zum Beispiel die Archäozoologie oder Steinartefakt-Analysen,« ergänzt Hannes Rathmann (SHEP), Erstautor der Studie. Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden nun im Journal of Archaeological Science veröffentlicht. (GEA)