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Messerstecherei im Steinlachtal: psychisch kranker Täter schuldunfähig?

Diagnose des Psychiaters: Der 26-jährige Beschuldigte leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Tübinger Schwurgericht fällt am 24. April ein Urteil.

Prozess um Messerstecher im Steinlachtal. Tübinger Schwurgericht will am 24. April das Urteil über den Beschuldigten fällen.
Prozess um Messerstecher im Steinlachtal. Tübinger Schwurgericht will am 24. April das Urteil über den Beschuldigten fällen. Foto: Pieth
Prozess um Messerstecher im Steinlachtal. Tübinger Schwurgericht will am 24. April das Urteil über den Beschuldigten fällen.
Foto: Pieth

TÜBINGEN. Ein 26-Jähriger aus einer Gemeinde im Steinlachtal stach am 16. November 2024 nach einem heftigen Streit mit einem Messer mehrfach auf seinen Bruder ein. Das Opfer überlebte nur knapp. Doch der 26-Jährige war offenbar bei der Tat schuldunfähig. Er ist psychisch krank. Er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer dissoziativen Identitätsstörung. So lautete die abschließende Diagnose des psychiatrischen Gutachters Dr. Stephan Bork, die er am Donnerstag im Prozess vor dem Tübinger Landgericht vorstellte.

Die beiden Brüder hatten immer wieder Probleme miteinander. Im November vergangenen Jahres eskalierte die Situation. Der jüngere Bruder fühlte sich vom älteren bedroht und tyrannisiert und wollte ihm eine »Respektschelle« verpassen. Er lockte den 26-Jährigen aus dessen Wohnung. Vor dem Haus kam es zum Streit und zu einer Rangelei mit Schwitzkasten. Der 26-Jährige stach schließlich auf den jüngeren Bruder ein.

Sexuelle Übergriffe des Vaters

Wenn man hinter die Kulissen der heftigen Auseinandersetzung schaut, offenbart sich eine traurige Geschichte. Als der Beschuldigte drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Der Grund: Der Vater hatte pädophile Neigungen. Es kam offenbar zu sexuellen Übergriffen auf die Kinder, weshalb der Vater auch ins Gefängnis musste.

Die Mutter ihrerseits schlug wohl öfters ihre Kinder, manchmal auch ohne Grund. Sie war offensichtlich mit der Erziehung ihres Nachwuchses überfordert. Im Alter von 14 Jahren zog der jüngere Bruder bereits aus dem Elternhaus aus, der ältere blieb noch bis er 18 war. Aber er fühlte sich, wie der 26-Jährige dem Gericht erklärte, von der Mutter vernachlässigt und schlecht behandelt.

Diese Erlebnisse führten laut Bork bei dem Beschuldigten zu einer Traumafolgestörung, auch posttraumatische Belastungsstörung genannt. Es kam noch hinzu, dass der 26-Jährige eine Persönlichkeitsspaltung entwickelte, was Bork als dissoziative Identitätsstörung bezeichnete. Eine offenbar eher seltene Kombination von Störungen.

Zwei Persönlichkeiten in einer Person

Bei dem 26-Jährigen äußerte sich dies in der Form, dass er in Stresssituationen eine zweite Persönlichkeit in sich spürte, die mit der ersten kommunizierte. Die zweite Persönlichkeit wollte die erste beschützen und war, wie Bork meinte, eher von einem starken Männlichkeitsbild geprägt. Der 26-Jährige hatte seiner zweiten Persönlichkeit auch einen Namen gegeben. Sie trug seinen eigenen Vornamen, nur rückwärts gesprochen.

Auch bei der Tat im November kam diese zweite Persönlichkeit zum Vorschein. Deshalb ist für den psychiatrischen Gutachter auch »glockenklar«, dass der 26-Jährige, als er im November auf seinen Bruder einstach, schuld- und steuerungsunfähig war und in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht werden sollte.

Es bestehe eine »erhöhte Wahrscheinlichkeit«, dass es in ähnlichen Stresssituationen »wieder zu solchen Handlungen kommt«, so der Gutachter weiter. Die Zukunftsprognose für den 26-Jährigen sei aber nicht schlecht. Es müsse in der Therapie nun gelingen, die zweite Persönlichkeit in die erste zu integrieren. Der Schwerpunkt müsse dabei auf der posttraumatischen Belastungsstörung liegen.

Im Gerichtssaal

Gericht: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Julia Merkle, Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Sabine Ayen, Uwe Knorre. Staatsanwalt: Patrick Pomreinke. Verteidiger: Christian Niederhöfer. Nebenklagevertreterin: Julia Geprägs. Rechtsmedizin: Dr. Frank Wehner. Psychiatrischer Sachverständiger: Dr. Stephan Bork.

Schon derzeit ist der Beschuldigte im Zentrum für Psychiatrie in Bad Schussenried untergebracht. Die dortige Therapie scheint positive Auswirkungen zu zeigen.

Am Donnerstag kam auch der Rechtsmediziner, Dr. Frank Wehner, zu Wort. Er hatte bei dem Opfer nach der Tat mehrere Stichwunden festgestellt. Ein Messerstich hatte die Brusthöhle eröffnet. Dies hätte dazu führen können, dass die Lunge kollabiert. Damit war dieser Stich »potenziell lebensgefährlich«. Der 25-Jährige konnte durch eine Notoperation gerettet werden.

Der Prozess wird am Donnerstag, 24. April, fortgesetzt. Dann ist auch mit einem Urteil zu rechnen. (GEA)