TÜBINGEN. Es war einer dieser Tage, an denen Tübingen sich selbst genügt. Mit Menschen, die auf der Neckarmauer in der Sonne sitzen, entspannt auf dem Marktplatz einen Kaffee oder ein Bierchen trinken, vor den Eisdielen Schlange stehen. Aber eben auch ein Tag, der in die neunte Tübinger Kulturnacht mündete, auf die Beine gestellt vom Kulturnetz Tübingen und von KuneArts. Über 100 Veranstaltungen waren angesetzt, teilweise schon tagsüber. Es war ein vielfältiges Tübingen (auch mit Partnerstadt- und überregionaler Beteiligung), das sich hier präsentierte, rockig, nachdenklich, verspielt und poetisch.
Lag's am schönen Frühlingswetter oder am zeitgleich ausgetragenen Eurovision Song Contest, dass die Zahl der zahlenden Kulturnachtbesucherinnen und -besucher die Veranstalter nicht ganz zufriedengestellt haben dürfte? Was nicht heißt, dass wenig los war in der Stadt. Aber manche nutzten eben die freien Kulturnachtangebote insbesondere auf Holzmarkt und Marktplatz, statt sich Bändel für die Gesamtveranstaltung zu kaufen. Gerade in der Altstadt war auch am späten Abend viel los. Schade, dass da am alten Güterbahnhof und an der Westspitze der Soul und Pop von Las Lanzas Coloradas und der Swing der Good Vibrations bereits verklungen waren.
Hoffnung. Man wolle nicht viel über Kultur reden an diesem Tag, sondern Kultur machen, sagt Dorothee Must vom Vorstand des Kulturnetzes bei der offiziellen Eröffnung auf dem Marktplatz. Von Origami bis Heavy Metal, sagt sie, reiche die Bandbreite. Vor ihr hat der Oberbürgermeister der ukrainischen Stadt Krementschuk, Vitalii Maletskyi, gesprochen, der mit Tübingen eine Solidaritätspartnerschaft unterschrieben hat. An der Spitze einer Delegation stehend, hat er die Hoffnung geäußert, in absehbarer Zeit auch die Tübinger zu Kulturerlebnissen nach Krementschuk einladen zu können, »wenn überall die Musen singen und nicht mehr Kanonen grollen«.
Neckar-Nähe. Im Museumsgarten am Hölderlinturm sind die Besucherinnen und Besucher Minuten vor dem Auftritt von Florian Seiberlich noch an einer Hand abzählbar. Schlagartig sind dann aber fast alle Stühle besetzt, auch die Mauer zum Neckar hin - der in Gedichtzeilen Friedrich Hölderlins auftaucht, die Seiberlich in bester Singer-Songwriter-Manier vertont hat und zur Gitarre singt. »Komm! ins Offene, Freund!« heißt es da und »Was bleibet aber, stiften die Dichter«. Der Sänger spart eher mit Pathos, eines der Lieder ist bluesgetränkt. In ihnen ist Hölderlin plötzlich sehr nah.
Schlangenbiss. In der Lyrikhandlung am Hölderlinturm liest Chandal Nasser ausgewählte, auch noch unveröffentlichte Gedichte. Die gebürtige Brasilianerin schreibt auf Deutsch. Zwischen scheinbar ganz ernsten Gedichtzeilen blitzt immer wieder Humor auf, schlagen die Worte Haken, stieben poetische Funken. Der Himmel wird für sie zum »üppigen Spickzettel« - mit Dingen, die sie nicht vergessen möchte. Einen Sommerabend beschreibt sie im Augenblick, als die Unterhaltung stoppt: »Wäre dieser Moment eine Schlange, hätte er uns schon gebissen.« Zwischendurch spielt Bernhard Mohl auf der Gitarre, bereit, als Nasser fertig ist und schon neues Publikum in den engen Laden drängt, für seinen Vortrag neuer Mörike-Lieder.
Musicalfieber. Im LTT entfacht die Musical Academy Tübingen singend Magie. Die Instrumentalbegleitung kommt zwar aus der Konserve, aber die strahlenden Augen, mit denen der Chor und die wechselnden Solisten die Stücke gestalten, sind live. Genau wie Ansätze von Choreografie. Es sind teils Ausschnitte aus früheren Produktionen, teils Nummern aus dem Rock-Musical »Rent«, das die Musical Academy am 7. Juni in der Kulturhalle Dußlingen herausbringt und dann insgesamt sechsmal spielt. Schade, dass die Spielstätte LTT-Oben zu klein für das interessierte Kulturnacht-Publikum ist. Einige müssen es später am Abend noch einmal versuchen, bei einem weiteren Auftritt.
Schwesterndialog. Auf dem Marktplatz kommt es am späten Abend noch zu einem denkwürdigen Dialog. Die Mode und der Tod outen sich dort als Schwestern. Das MasckaraTheater hat sich durch Giacomo Leopardis »Opuscula Moralia« (1824) zu einer zeitgenössischen Inszenierung in Kooperation mit den nachhaltigen Modebrands Rani and Reine und Pelo Yaka der Tübinger Designerinnen Sarah Bhattacharjee und Seatile Neyrinck anregen lassen. Die Schauspiel-Parts übernehmen Laura Conte und Noemi Fulli. In Choreografien sind Models eingebunden, die zuvor schon bei einer Modenschau im Rittersaal des Schlosses in Erscheinung getreten sind.
Mit Schwein. Vor dem Café am See auf dem Europaplatz hat sich das 20-köpfige studentische Salon Orchester versammelt. Querflöten, Klavier, Klarinetten, Geigen, Posaune: Mit diesen Instrumenten geben die jungen Musiker Salonmusik, Filmmusik und Selbstkomponiertes zum Besten. Max Raabes »Kein Schwein ruft mich an« darf nicht fehlen. Die Begründung? Damit man ungestört die Worte Schwein und Sau verwenden kann und dafür auch noch Applaus bekommt.
Drachen gucken. Die Zhuo Shi Wu Shu Akademie Tübingen zeigt mit Groß und Klein ihr Können. Die Kleinsten führen Wu Shu vor, das Kung Fu für Kinder. Mit Stöcken und ihrer Stimme bewaffnet, allein oder in Gruppen, mal mit atemberaubenden Sprüngen, mal tief auf dem Boden, beeindrucken sie das Publikum. Tai Chi und Qi Gong präsentieren die Erwachsenen - in weißen Gewändern und mit Fächer und Schwertern bewaffnet.
Sonnenstrahlen für besseren Klang. Im Innenhof der Stadtbücherei haben sich Ashanuru Malanga und Beno Chuwa aus Moshi in Tansania aufgestellt. Mit der Stadt am Kilimanjaro besteht seit zehn Jahren eine Städtepartnerschaft. Mitgebracht haben die beiden Kunst in Form von Bildern, Tüchern, Figuren und das Highlight: Gesang und Tanz. Ihre Trommeln haben sie den Tag über extra in der Sonne stehen lassen, damit der Sound besser ist. Sie führen mehrere Lieder aus ihrer Region vor und laden zum Mittanzen. Die Lieder werden traditionell in Zeremonien rund um die Ernte gespielt.
Dinos und anderes. Es liegt ein bisschen abseits in der Sigwartstraße. Aber es ist ein echter Geheimtipp und hat prachtvolle Exponate: einen T-Rex-Kopf und eine ganze Wand aus Ammoniten aus dem Steinlachtal beispielsweise. Das Museum der Paläontologen bietet sich an für eine Reise in die Vergangenheit. Wilfried Konrad bietet einen kurzen Überblick über die Ausstellung. Die von Friedrich August Quenstedt gegründete Sammlung wird immer wieder erweitert. (GEA)




