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Münzgasse 13: Warum diese WG so besonders ist

TÜBINGEN. »Es sind die unsichtbaren Werte, die hier zählen.« Mit 80 Jahren ist Jim Hope der älteste Bewohner der Münzgasse 13, und er muss nicht lange überlegen, wenn er nach dem Speziellen an diesem Haus gefragt wird. »Es ist der Respekt voreinander und die Solidarität. Durch das Zusammenleben über längere Zeit entsteht ein soziales Netzwerk, das einen auffängt. Das ist unbezahlbar«.

Foto: Privat
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Hope, der unter anderem Philosophie studierte, zog am 1. März 1977 in das Haus neben der Stiftskirche ein, nachdem es zwei Tage zuvor besetzt worden war. Seither lebt er im Untergeschoss in einem großen Zimmer, das er wegen seiner unzähligen Bücher braucht. »Damit im Haus umzuziehen, wäre zu kompliziert«, sagt er.

Als Hannes Koerber vor 40 Jahren von der Besetzung erfuhr, saß er gerade im Ammerschlag. »Ich bin sofort hingegangen. Es war ja die große Hausbesetzerzeit, fast jede Woche wurde in Tübingen eines besetzt. Damals war ja noch alles aus einem Guss, die alternative Gesellschaft, die Musik, die Politik und die Subkultur«, sagt Koerber, bekannt auch als Gründungsmitglied und Sänger der Tübinger Punkrock-Band K.G.B. Im Jahr 1983 zog er endgültig in die »Münze 13«, wo er sich sehr wohlfühlt. »Es wird immer besser. Das Haus ist ein Jungbrunnen für mich.«

Nicht bei jedem stößt die Wohnform des 60-Jährigen auf Verständnis. Kürzlich war ein Flaschner im Haus, mit dem er sich nett unterhielt. »Ich sage es Ihnen ganz offen, es tut mir arg leid, dass jemand wie Sie noch so leben muss«, lautete das Fazit des Handwerkers, das Koerber immer noch sehr erheitert.

Etwas über 20 Bewohner, Studierende und Nichtstudierende, teilen sich in vier Wohngemeinschaften auf, jede lebt autark. In einer davon lebt die Rhetorik- und Politikstudentin Marie Graf, mit 23 Jahren ist sie die jüngste Bewohnerin des Gebäudes, in das sie sich gleich verliebte. »Wir haben hier schöne Bäder und Zimmer, und die Dachterrasse ist mein Lieblingsort, hier arbeite ich im Sommer.«

Es sei auch viel mehr als eine Wohngemeinschaft, es sei ein familiäres Wohnprojekt. »Uns schweißt zusammen, dass man sich um vieles gemeinsam kümmern muss, zum Beispiel um die Renovierung, die Feste oder auch unser Vorhaben, das Haus über das Freiburger Mietshäuser-Syndikat zu kaufen.«
»Uns schweißt zusammen, dass man sich um vieles gemeinsam kümmern muss«
Mit dem jüngsten Plan, die Immobilie zu erwerben, beginnt ein neuer Abschnitt für die Münzgasse 13, hinter deren dicken Wänden eine wechselhafte Geschichte liegt. Sie beginnt im Jahr 1683, als Studentenwohnheim für die Stipendiaten des »Martinianum«. Studenten aus armen Familien erhielten Kost und Logis. Bis 1923 erhielt die Stiftung das Wohnheim aufrecht, dann wurde es vom Studentenwerk e. V. übernommen, bis Nationalsozialisten in dem Haus eine Polizei- und Gestapo-Dienststelle errichteten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es weiter von der Polizei genutzt, ehe diese im Jahr 1967 in das neue Hochhaus in Derendingen zog.

Studentenwerk e. V. oder Studentenwerk A.d.ö.R. (Anstalt des öffentlichen Rechts)? Wem stand das Haus in der Münzgasse jetzt zu? Diese offene Frage und der Streit darüber führte erst einmal zu einem Leerstand, schließlich zur Besetzung. Daraus entwickelte sich eine feste Institution, in der sozial und politisch gelebt wird, begleitet von kulturellen Veranstaltungen. Konzerte, Vernissagen oder Lesungen, dafür bietet der legendäre Blaue Salon Raum, die Hausbar für die Bewohner und ihre Gäste. Hier treffen sich auch verschiedene Arbeitskreise wie etwa die Flüchtlingshilfe Shedhalle, die kritischen Juristen oder eine Poetry-Slam-Runde.

Heute ist die Nachfrage nach einem Platz in der Münzgasse viel größer als das Angebot, weshalb Miet-Interessenten in den Wohngemeinschaften ein Casting durchlaufen müssen. Wer es geschafft hat, auf den warten Aufgaben im Haus. »Mir ist wichtig, dass alle alles machen, vom Kloputz bis zur Einarbeitung in die Gründung einer GmbH, was wir für den geplanten Hauskauf brauchen«, so Koerber. Bei allem kann man sich auch zurückziehen, wenn man Ruhe braucht. Der Wunsch nach Alleinsein wird akzeptiert. Die verschiedenen Generationen kommen gut miteinander aus und ergänzen sich. »Die Alten bleiben jung und die Jungen werden alt genug, um aktiv zu werden«, so Hope.

Wie stark die Gemeinschaft ist, zeigt sich unter anderem daran, dass das Hausfestival nicht auf Ende Februar gelegt wurde, dem Datum, als das Gebäude vor 40 Jahren besetzt wurde. Koerber war verreist. »Wir wussten, dass er erst im April wieder zurückkommt«, so Graef. »Er sollte unbedingt dabei sein, ohne ihn war das Haus nicht komplett.«

»Schön ist die Vielfalt hier im Haus«, macht die 24-jährige Eva Danner deutlich. Sie wohnt und lebt seit dreieinhalb Jahren in der »Münze 13« und beginnt im kommenden Semester mit ihrem Medizinstudium. »Wir versuchen, hier in dieser alternativen Lebensform die Vielfalt zu leben, die wir in der Gesellschaft auch gerne hätten.« (GEA)