MÖSSINGEN. Vor zehn Jahren flohen Millionen Syrer in benachbarte Länder des Nahen Ostens und nach Europa. Als der Mössinger Arzt Andreas Gammel im Frühjahr 2016 von der katastrophalen Lage im Flüchtlingslager in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Nordmazedonien erfuhr, beschloss er spontan, zu helfen. 22.000 Menschen campierten dort in 8.000 Zelten auf dem Acker.
Zusammen mit einem Arabisch sprechenden Medizinstudenten flog Gammel nach Griechenland. »Davor haben wir Apotheken leergebettelt und leergekauft«, erinnerte er sich. Vor Ort bot er Sprechstunden am Kofferraum an und es bildeten sich schon bald lange Schlangen. »Bei uns vergessene Krankheiten wie die Krätze waren dort auf einmal wieder ein Thema«, so der Arzt. Zusammen mit anderen Freiwilligen gründete er später den gemeinnützigen Verein ResCo. »Wir haben den Verein als feste Struktur gegründet, um Flüchtlingen zu helfen«, sagte Gammel am Mittwochabend in der evangelischen Martin-Luther-Kirche in Mössingen. Dort werden derzeit 40 Kreuze ausgestellt und verkauft, die Julian Jochen-Warth hergestellt hat. Die Verkaufserlöse in den nächsten Wochen in der Kirche und am Rosenmarkt gehen an den Verein ResCo. Die Organisationsform helfe, Finanzmittel zu gewinnen, so Gammel. Ein Vorteil: Spenden an den Verein sind steuerlich absetzbar.
Beim Erdbeben die Schnellsten
Unter dem Namen ResCO – kurz für Rescue Coordination Online – hat sich ein innovatives Hilfsmodell etabliert, das akute Notlagen schnell und gezielt adressiert. Über soziale Medien, Messenger-Dienste und direkte Hilferufe erreichen das Netzwerk Meldungen aus Krisengebieten oder Notfallsituationen. ResCO reagiert unmittelbar, indem es über seine engen Verbindungen vor Ort Hilfe organisiert – oft innerhalb weniger Stunden. »Wir waren im Februar 2023 nach den Erdbeben in der Osttürkei die erste Organisation, die vor Ort konkrete Hothilfe geleistet hat«, berichtete Gammel. In Gazantep unterhält der Verein eine Art medizinisches Versorgungszentrum. »Es ist eine Praxis, in der man auch einmal ein paar Stunden bleiben kann«, so der Arzt.
Die Bandbreite der Einsätze ist groß: Von der Vermittlung medizinischer Versorgung über die Beschaffung dringend benötigter Medikamente bis hin zur Finanzierung und Koordination lebensrettender Operationen in einzelnen Fällen. Auch Transporte von Hilfsgütern, die Begleitung kranker Menschen oder die Bereitstellung von Lebensmitteln, Kleidung und Heizöfen gehören zum Alltag des Netzwerks. Im Libanon bezahlt der Verein eine Hebamme, die sich auch dauerhaft um ein ihr anvertrautes Kind kümmert.
Wie sein Hilfskonzept greift
Ein zentrales Prinzip von ResCO: Es wird ausschließlich mit Menschen zusammengearbeitet, die dem Netzwerk persönlich bekannt und vertrauenswürdig sind. »Das Geld kommt direkt an«, sagt Gammel. Medikamente, Dienstleistungen oder Hilfsgüter werden niemals pauschal verteilt, sondern gezielt über diese Kontaktpersonen beschafft und finanziert. Geldmittel fließen somit nicht direkt an Bedürftige, sondern werden in konkrete, überprüfbare Hilfe investiert. Der Arzt weiß, dass sich die Stimmung bezüglich Flüchtlingen hierzulande im Allgemeinen gedreht hat. »Gewalttaten und Probleme zu leugnen, war nicht richtig«, sagte Gammel. Doch ihm gehe es in erster Linie um die einzelnen Menschen.
»Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit ist, schwer kranken Kindern, denen im Heimat- oder Transitland nicht ausreichend geholfen werden kann, eine medizinische Versorgung in Deutschland und auch das dafür nötige Visum zu beschaffen«, erklärte Gammel.
Dabei handelt es sich naturgemäß um Einzelfälle, wie beispielsweise das Mädchen Aiten. »Sie war als Kleinkind wegen einer angeborenen Lebererkrankung in Idomeni in einem hoffnungslosen Zustand.« 2016 konnte der Verein sie in die Obhut der Kinderklinik in Hamburg-Eppendorf vermitteln – ihr Vater war bereits in Deutschland. Allerdings erforderte der Familiennachzug samt Mutter auch viele Telefonate und gute Verbindungen nach Berlin. »Annette Widmann-Mauz hat mir oft geholfen«, sagte der Mössinger. Denn oft mahlen die Mühlen der Bürokratie langsam. Und nach einer Lebertransplantation im Frühjahr 2018 führt sie jetzt mit ihrer Familie in Delmenhorst ein fast normales Leben. Inzwischen habe Aiten eine Schwester und einen Bruder dazu bekommen und besuche die vierte Klasse. Wie in den anderen von ihm betreuten Einzelfällen, wird Gammel diese »nicht mehr los«. Er werde bei Behördenangelegenheiten und Kindergartenanmeldungen um Hilfe gebeten.
Bewegende Schicksale
Taim, ein damals vierjähriger Junge mit Down-Syndrom, der wegen seines Herzfehlers im syrischen Homs keine Chance hatte, konnte vom Verein mit seinen Brüdern nach Braunschweig geholt und dort operiert werden. Drastisch schilderte Gammel den Fall von Khairi, der als zweieinhalbjähriger mit seiner Mutter und seiner großen Schwester bei der Eroberung des irakischen Jesidengebietes durch den IS in Gefangenschaft geriet und über Jahre massiv misshandelt wurde. Nach vielen Operationen geht es ihm inzwischen wieder gut. (GEA)