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Lob und Kritik für neue Fahrradbrücke in Tübingen

Einen Monat nach Eröffnung sind viele Radler von der 16 Millionen Euro teuren Tübinger Radbrücke offenbar angetan. Sie ist zu einem beliebten Fotomotiv geworden.

Finde den Fehler! Die neue RadbrückeTübingen ist streng genommen für Fußgänger tabu.
Finde den Fehler! Die neue RadbrückeTübingen ist streng genommen für Fußgänger tabu. Foto: Brigitte Gisel
Finde den Fehler! Die neue RadbrückeTübingen ist streng genommen für Fußgänger tabu.
Foto: Brigitte Gisel

TÜBINGEN. Mit ihren E-Bikes strampeln die beiden Frauen auf den höchsten Punkt der neuen Radbrücke zu. Zehn Meter über den Schienen bleibt die eine stehen: »Du, mach doch schnell ein Foto von mir mit dem Schloss im Hintergrund. Das schicke ich meiner Tochter.« In den ersten Tagen nach der Eröffnung der neuen Radbrücke West zwischen den Mühlbachäckern und dem Anlagenpark waren die beiden nicht die Einzigen, die hoch über den Gleisen kurz verweilten und das Handy zückten. Tübingen hat ein neues Fotomotiv: Deutschlands längste und teuerste Radbrücke – die Ann Arbor Bridge. 365 Meter lang, mit blauem Belag und Fußbodenheizung für den Winter.

Das 16-Millionen-Bauwerk brachte der Stadt und ihrem OB Boris Palmer nicht nur Lob und Anerkennung ein, sondern auch Häme und Kritik. »Boris Palmer eröffnet Tübingens teuerste Radbrücke« titelte die Bild-Zeitung süffisant.

Jetzt, einen guten Monat später, haben sich die Wogen geglättet. Das blaue Band über die Eisenbahnschienen wird gut angenommen. Sie verbindet die südlichen Stadtteile mit rund 3.500 Arbeitsplätzen bei Landratsamt, Regierungspräsidium, Polizei und der Zentrale der Kreissparkasse mit den nördlich gelegenen mit Anbindung zu Klinikum und Uni auf dem Schnarrenberg. Einen Steinwurf von der Brücke entfernt gibt es drei Gymnasien mit mehr als 2.500 Schülern. Das alles ist jetzt kreuzungs- und autofrei zu erreichen, als Dreingabe winkt ein freier Blick aufs Schloss und Teile der Stadt.

Nicht an der Schranke warten

Die Radelnden sind begeistert. »Ich fahre jetzt doppelt so gerne zur Arbeit«, sagt Landratsamts-Mitarbeiterin Sylvia Minde und lacht. Sie hat es von ihrer Wohnung in der Altstadt nicht wirklich weit, findet die neue Brücke aber sehr viel schöner zu fahren. Vorher musste sie sich mit geschlossenen Bahnschranken, Ampeln und Autos auf dem Radweg entlang der B 28 herumärgern. Das falle jetzt alles weg.

Der Radweg entlang der Bundesstraße sei außerdem im Winter weder gestreut noch geräumt worden. »Ich bin im letzten Winter drei Wochen lang Bus gefahren«, erinnert sich die begeisterte Radlerin. »Ich finde sie auch ganz klasse«, sagt ihre Kollegin Lydia Reinert. Ihr Weg ist etwas weiter, sie wohnt höher gelegen auf der Wanne. »Die neue Brücke spart mir fünf Minuten«, sagt sie. »Außerdem ist es viel angenehmer, und ich fühle mich auch sicherer.« Auch ein weiterer Pendler genießt das neue Angebot. Er kommt mit seinem Lastenrad aus Kirchentellinsfurt, ist jetzt schneller am Ziel und muss nicht mehr durch die stark befahrene Unterführung an der Steinlachallee. Sein Weg zur Arbeit sei außerdem neuerdings »architektonisch ein Highlight. Auch nachts.« Denn natürlich ist die Brücke im Dunkeln dezent beleuchtet.

Die neue Radbrücke Tübingen soll nach der Partnerstadt in den USA benannt werden: Ann Arbor Bridge. Die Kritiker des 16 Millione
Die neue Radbrücke Tübingen soll nach der Partnerstadt in den USA benannt werden: Ann Arbor Bridge. Die Kritiker des 16 Millionen Euro teuren Bauwerks sind leiser geworden. Foto: Brigitte Gisel
Die neue Radbrücke Tübingen soll nach der Partnerstadt in den USA benannt werden: Ann Arbor Bridge. Die Kritiker des 16 Millionen Euro teuren Bauwerks sind leiser geworden.
Foto: Brigitte Gisel

Johannes Untraut, Radverkehrskoordinator beim Tübinger Landratsamt, hört bisher ebenfalls nur Gutes und genießt privat den Weg über die Brücke. »Alle, die von der Weststadt, Altstadt und aus Richtung Hauptbahnhof kommen, nehmen die Brücke«, sagt er. Vom Wettbewerb Stadtradeln weiß er, dass Fahrräder im Behördenzentrum eine große Rolle spielen – denn Parkplätze sind ein knappes Gut. Er glaubt, dass die Brücke noch weiter an Bedeutung gewinnen wird, wenn hinter dem Behördenzentrum erst einmal neu gebaut wird. Selbst aus Reutlingen kommt Lob: »Eine solch tolle Radbrücke von 365 Metern Länge wie über den Neckar bin ich noch nie gefahren«, schreibt Siegfried Weiß aus Ohmenhausen in einem GEA-Leserbrief.

Die ersten Zahlen geben der Stadt recht. Eine Woche nach der Eröffnung wurden innerhalb von 24 Stunden 2.135 Radler auf der Brücke gezählt. Den Kreisverkehr passierten 3.614 Fahrradfahrer. Auch an der nächsten Zählstation entlang der Verkehrsachse seien seither mehr Radfahrer registriert worden. Palmer verkündet mit der Zahl von 6.000 Radlern am 5. November einen neuen Rekord. »Das sind Zahlen, die wir früher nur an heißen Freibadtagen hatten«, schreibt er. Selbst am eher trüben 19. November wurden dort noch 4.900 Radler gezählt.

Kritik an den Heizkosten

Auch andere Statistiken weisen in diese Richtung: Im Oktober lag die Zahl der Radler an der Zählstelle Schlossbergtunnel in Verlängerung der Radbrücke um 23.000 höher als im Vorjahr. Gleichzeitig fuhren rund 15.000 Fahrräder weniger durch die Steinlachunterführung – was ebenfalls vorsichtig als Verlagerung des Radverkehrs in Richtung der neuen Brücke interpretiert werden kann. Auch der Radkreisverkehr, einer der ersten Deutschlands, werde »sehr gut« angenommen, schreibt die Stadtverwaltung. An die Verkehrsführung hätten sich die Radler gewöhnt. Und passiert ist auf und an der Brücke offenbar auch noch nichts. »Uns sind keine Unfälle bekannt«, meldet das städtische Presseamt nach drei Wochen.

Auch die Zweifler sind inzwischen stiller geworden. Aufreger Nummer eins waren die Kosten. Das Magazin Focus lästerte genüsslich, dass Palmer im ZDF bei Markus Lanz ein 40-Millionen-Loch im städtischen Haushalt verkündet und gleichzeitig seine millionenschwere Radbrücke feiert. In den sozialen Medien kam es noch dicker: »Besser kann man Steuergelder nicht verschwenden«, maulte ein Facebook-Schreiber und griff zur großen Keule: »Währenddessen müssen unsere Rentner im Müll nach Pfandflaschen wühlen.« Ein Narrativ, das die Fundamentalopposition gerne aufgreift und das auch anderswo in der Stadt immer mal wieder zu hören war. Ein anderer meinte lapidar: »Man hätte das Geld besser für die Sanierung von Straßen ausgeben können.«

Fußgänger sollen unten bleiben

Palmer hält dagegen. Schließlich hat die Stadt mit rund 4,5 Millionen Euro nur rund ein Viertel der Kosten gestemmt, drei Viertel der Kosten tragen Bund und Land. Was die Kostenkritiker am meisten empört: die eingebaute Heizung, die mit Ökostrom betrieben bei Temperaturen ab 3 Grad dafür sorgt, dass weder Regen noch Nebel die Brücke zur Rutschpartie werden lassen. Was das kostet? 300.000 Euro, sagte der OB am Eröffnungstag beispielsweise dem SWR. Andere Medien berichteten von Summen zwischen 400.000 und 500.000 Euro. Die Stadtpressestelle bezifferte die Kosten zuletzt auf 670.000 Euro brutto – vorbehaltlich der Schlussabrechnung, die noch ausstehe. Bei den laufenden Kosten verweist die Pressestelle auf die Erfahrung mit zwei weiteren beheizten Radbrücken: »Die Kosten des Heizbetriebs sind gegenüber den Baukosten gering.« Der Verzicht auf Streusalz verlängere die Lebensdauer der Brücke aber um die Hälfte. Räum- und Streudienste könne man sich auch sparen.

VIER BRÜCKEN AM »SUPERRADWEG«

Grundgerüst der Tübinger Fahrradinfrastruktur

Die jetzt fertiggestellte Ann Arbor Bridge – die Radbrücke West – ist die dritte von vier Radbrücken, die im Rahmen der Tübinger »Superradwege« die Nord-Südverbindungen bilden. Zusammen mit dem »blauen Band«, das auf 1,5 Kilometern Länge mit breiten Radwegen und Fahrradstraßen die Ost-West-Verbindungen abdeckt, bilden sie das Grundgerüst der Tübinger Fahrradinfrastruktur im Stadtgebiet. Die Gesamtkosten für die vier Brücken liegen bei rund 30 Millionen Euro. Die Radbrücke Mitte war die erste, die im Juli 2021 fertiggestellt wurde. Sie verbindet auf 35 Metern Länge die Wöhrd-straße mit der Bismarckstraße und führt über die Steinlach. Sie ist die erste Radbrücke in Tübingen mit Heizung. Im Juli 2023 folgte die Radbrücke Ost neben dem Fußgängerüberweg am Neckarstauwehr. Sie ist 85 Meter lang und ebenfalls beheizt. Bis Ende 2025 soll der dortige Radweg über eine Fuß- und Radunterführung unter der Bahnlinie zum Wohngebiet Alter Güterbahnhof in der Südstadt fertig sein. Noch im Bau ist die Fußgänger- und Radbrücke Lustnau, die auf Höhe des Rudervereins über den Neckar geführt wird. Sie wird aus Holz gebaut und soll ebenfalls nächstes Jahr fertig werden. Sie verbindet künftig unter anderem die Wohngebiete »Alte Weberei« und Queck-Areal mit einem Stadtbahnhaltepunkt Neckaraue. (sel)

Aufreger Nummer zwei: das Verbot für Fußgänger. Anders als S-Pedelecs und E-Scooter dürfen Fußgänger und auch Rollstuhlfahrer die neue Brücke nämlich – juristisch betrachtet – nicht benutzen. Sie ist ein Fahrradweg. Das brachte all jene auf die Palme, die sich erstens als Fußgänger ohnehin benachteiligt fühlen, zweitens die Tübinger Fahrradfahrer nicht leiden können und drittens mit der ganzen Radförderung von OB und Gemeinderat auf Kriegsfuß stehen. Das Thema sorgte für Kommentare in den sozialen Medien und füllte Leserbriefspalten. Dabei hatte der OB versprochen, keine Stadtsheriffs gegen Fußgänger in Stellung zu bringen.

Palmer lässt das an sich abperlen. »Es gibt keine Kritik vieler Fußgänger, weil die Brücke für diese kaum einen Nutzen hätte«, sagt der OB. Die Wege zwischen relevanten Zielen seien schlicht zu weit. Zudem sei die Entscheidung, die Brücke als reine Radbrücke zu bauen, weit im Vorfeld im Gemeinderat gefallen. Ganz so unumstritten war das damals aber nicht. Die Linke hatte für eine fußgängertaugliche Brücke plädiert und war damit mit 16 zu 22 Gegenstimmen gescheitert. Beim Baubeschluss selbst gab es 10 Gegenstimmen aus den Reihen von Tübinger Liste, Linke und FDP sowie zwei Enthaltungen von der CDU. Palmer schätzt, dass die Stadt für eine breitere Brücke 7 Millionen Euro mehr hätte zahlen müssen.

Namensgebung unstrittig

Ganz und gar unstrittig ist indessen die Namensgebung: Sie soll Ann Arbor Bridge heißen, befand der OB, benannt nach Tübingens Partnerstadt in den USA, die er kurz zuvor besucht hatte. Die »Blaue Brücke« gibt es in Tübingen schließlich schon. Kaum war der OB das erste Mal ganz offiziell im blauen Klimaschutzanzug über die Brücke geradelt, befestigte er ein provisorisches Namensschild am Brückengeländer. Schon eine Woche später folgte ein interfraktioneller Antrag von AL/Grünen und der CDU, dies in die Tat umzusetzen. Der Rest ist Formsache. (GEA)