TÜBINGEN. So langsam kommt Licht ins Dunkel, wie die Situation am 20. September des vergangenen Jahres nahe dem Tübinger Hauptbahnhof so eskalieren konnte. An diesem Herbsttag hatte ein 33-Jähriger drei Bahnmitarbeiter auf einem nahen Parkplatz mit einem Fahrradschloss bedroht und wüst beschimpft. Als die hinzugezogenen Polizisten den aggressiven Mann nicht beruhigen konnten und er auf die nahen Bahngleise zurückwich, griffen die Beamten ein. Der gebürtige Gambier widersetzte sich seiner Festnahme und verletzte zwei Polizisten - einen davon lebensgefährlich. Dafür wurde er vom Tübinger Amtsgericht bereits zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt (wir berichteten). Am zweiten Verhandlungstags des Berufungsprozesses vor dem Tübinger Landgericht wurden nun am Dienstag die betroffenen Bahnmitarbeiter als Zeugen befragt. Das Gericht, unter Vorsitz von Michael Allmendinger, erhoffte sich davon eine Klärung, wie der Streit auf dem Parkplatz überhaupt anfing.
Dafür hat der erste als Zeuge geladene Bahnmitarbeiter allerdings keine Erklärung - denn einen Streit habe es in diesem Sinne eigentlich nicht gegeben. »Der Angeklagte stand da und hat rumgeflucht, also haben wir ihn erstmal ignoriert«, erklärte der Lokführer, der sich am 20. September mit zwei seiner Kollegen auf dem Parkplatz unterhalten hatte. »Ich habe nicht verstanden, warum er sich so verhält.« Dann habe der 33-Jährige die kleine Gruppe aus dem Nichts angefeindet: »Was guckt ihr so?!« - gefolgt von Beschimpfungen. Als die Bahnmitarbeiter nicht darauf eingingen, habe er ein Fahrradschloss aus dem Kofferraum seines geparkten Autos geholt und gedroht: »Ich bringe euch um!«
Angst vor dem Angeklagten
Obwohl der Lokführer in seinem Beruf ja schon einiges erlebt habe, hatte dieses Zusammentreffen eine andere Qualität. »Ich habe das Ganze nicht so gut verarbeitet«, gab der 50-Jährige vor Gericht zu. Fünfeinhalb Wochen sei er krankgeschrieben gewesen, hatte sich in Therapie begeben. »Ich hatte Angst, dass er wiederkommt.« Schließlich sei der Angeklagte schnell wieder freigekommen.
Den Tathergang schilderten die zwei anderen Kollegen des 50-jährigen Lokführers ähnlich. Eine Provokation sei der Situation nicht vorausgegangen, gaben sowohl ein Zug- als auch ein Kundenbetreuer zu Protokoll. »Ich wusste nicht, ob er die Beleidigungen und Drohungen uns gegenüber ernst meinte«, sagte der 51-jährige Zugbegleiter. Er sei aber aggressiv gewesen und immer wieder mit einem Gegenstand in der Hand auf die Gruppe zugekommen - auf bis zu zwei Metern. »Geschrien und gedroht hatte er uns«, ergänzte der Kundenbetreuer in der dritten Vernehmung.
Der Angeklagte indes schilderte die Situation in einer Erklärung, die bereits am ersten Prozesstag verlesen wurde, deutlich anders. »Ich wollte nur chillen und meine Cola trinken«, hieß es darin. Dann sei er wohl nach einem kohlesäurebedingten Aufstoßen aus Richtung der Gruppe als »Schwein« bezeichnet worden. Diese Beleidigung habe aber keiner der Bahnmitarbeiter geäußert, wie die Zeugen gegenüber Richter Allmendinger versicherten.
Irritationen bei der Übersetzung
Von dem Gerangel auf den Gleisen, das der Verhaftung des Angeklagten vorausging und bei dem die zwei Polizisten verletzt wurden, konnten die Bahnmitarbeiter wenig sagen. Auf zwei mit einem Smartphone aufgenommenen Videoschnipseln war zu sehen, dass sie zu weit vom nachfolgenden Geschehen entfernt waren. Ein Polizist, der als vierter Zeuge aussagte und bei dem Einsatz dabei war, bestätigte die Ausführungen der bereits vernommenen Beamten beim Prozessauftakt vergangene Woche. Laut des 40-Jährigen sei die lebensgefährliche Verletzung, die sich sein Kollege von der Bundespolizei zugezogen hatte, das Resultat eines »unglücklichen Falls« aus der Situation heraus.
Für eine kleine Irritation sorgte indes eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Dolmetscher des Angeklagten und einem geladenen Übersetzer. Letzterer sollte einige Aussagen in arabischer Sprache untersuchen, die der 33-Jährige während seiner Festnahme von sich gegeben hatte. Das Gesagte verstand der geladene Übersetzer allerdings nicht - wohl, weil der Akzent des Gambiers bei den rezitierten Gebeten und Koran-Versen zu stark vom Hocharabischen abwich. Der Dolmetscher des Angeklagten, der ihn seit Prozessbeginn begleitete, konnte die Aussagen schließlich übersetzen. Ob diese Ausdruck einer emotionalen Stresssituation sind, sei eventuell noch durch einen Sachverständigen zu klären, sagte Verteidigerin Lena Pfaff. Die Abschlussplädoyers und das Urteil werden am kommenden Montag erwartet. (GEA)