TÜBINGEN. »Das hat echt Ausmaße angenommen mit der Zeit«, sagt Kaiser. Aber es hat sich gelohnt, finden alle, die die Ausbeute schon mal in Augenschein genommen haben. Der 61-Jährige sitzt im Tübinger Vorstadttheater und breitet aus, was er in Wanderausstellungen einem großen Publikum präsentiert: wüste Beschimpfungen, amüsante Begebenheiten, überraschende Erkenntnisse.
»Jeder kann mitreden, jeder weiß etwas«, hat der Journalist beobachtet. Strafzettel lassen keinen kalt. Auf einen ersten Aufruf im Jahr 2008 hin trudelten Knöllchen und Geschichten ein. Kaiser sammelte und ordnete, ließ die Sache auch mal ein bisschen schleifen – schließlich gibt es Wichtigeres im Leben als eine Knöllchen-Leidenschaft. Doch langsam begannen sich Koffer und Schränke zu füllen.
Wenn einer eine Ausstellung macht, pappt er nicht einfach ein paar Zettel auf Stellwände. Kaiser machte sich ans Gestalten. Ein Schredder musste her. Besucher sollten gleich am Eingang das wohlige Gefühl verspüren, wie es ist, wenn man einen Strafzettel einfach vernichtet. Ein paar besondere Exemplare wurden überdimensional vergrößert und aufgehängt. Andere im dazu passenden Handschuhfach präsentiert. Einige Szenen sind mit Spielzeugautos nachgestellt.
»Beim nächsten Mal werden Sie überfahren. Ich hoffe, Sie landen im Rollstuhl«
Dann wurde die »Lovely Rita« der Beatles einbezogen. Schließlich handelt der Song auf dem Album »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« von einer Politesse: »Lovely Rita, meter maid«, singen die Jungs 1967, also etwa »entzückende Rita, Parkuhr-Kontrolleurin«. Parking attendant wäre korrekter gewesen als meter maid. Aber die Knöllchenschreiber männlich und weiblich werden auch im Deutschen selten als Vollstreckungsbeamte im Vollzugsdienst tituliert, und viele Zeitgenossen wundern sich, dass heute auf der blauen Uniform »Polizeibehörde« steht.
So wuchs die Sammlung Stück für Stück. Strafzettel und Utensilien brauchten mehr Platz. »Irgendwann mussste ich eine Garage anmieten«, erinnert sich Kaiser und betrachtet fast liebevoll einen Zettel im Goldrahmen. Den hat ein Paar dem Sammler geschenkt, das 2006 in Kufstein angehalten wurde.

Die Delinquenten waren schon deutlich über 70 Jahre alt und zum ersten Mal gemeinsam im Urlaub. Ihr Vergehen: Sicherheitsgurt nicht angelegt. »Brauch’ ich nicht. Mach’ ich nicht«, hatte die Dame protestiert und dafür von der Bezirkshauptmannschaft eine »Organstrafverfügung« erhalten. Kostenpunkt: 35 Euro.
Nicht alles ist so amüsant, wie die Geschichte der alten Dame, die aus Prinzip keinen Gurt anlegt. Dass Leute sich mächtig ärgern, wenn sie einen Strafzettel bekommen, scheint die Regel. Doch manche werden geradezu ausfällig: »Beim nächsten Mal werden Sie überfahren. Ich hoffe, Sie landen im Rollstuhl«, wütet einer. »Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen«, droht der Nächste. Kaiser hat eine ganze Tafel mit solchen Sprüchen aufgestellt und stellt fest, dass Besucher doch ziemlich nachdenklich werden, wenn sie das Sammelsurium menschlicher Gemeinheiten betrachten.

Er selber hat freundliche wie unangenehme Szenen in natura erlebt – auf Streife mit Beamten hierzulande und in Partnerstädten von Heilbronn und Tübingen. In Solothurn in der Schweiz scheint es besonders angenehm gewesen zu sein – inklusive Streifenfahrt auf der Aare. Weil die Gastgeber früher los mussten als gedacht, hatte es für Kaiser nicht mehr zum Umparken gereicht. Als er zum Auto zurückkam, begrüßte ihn ein Strafzettel auf der Windschutzscheibe. Der Spezialist in Sachen Verkehrsverstößen hat anstandslos bezahlt, obwohl die Schweizer Gnade vor Recht ergehen lassen wollten, und er hat das Beweisstück als Trophäe mitgenommen.
Trotz der auf der großen Tafel dokumentierten Ausfälle: Beim Vergleich der Handhabung in einzelnen Ländern hat Kaiser den Eindruck gewonnen, dass die meisten deutschen Strafzettel-Verteiler doch ein wenig entspannter mit den Kontrollen umgehen als manche Nachbarn. Im französischen Béziers hat er erlebt, dass jemand aufgeschrieben wurde, obwohl er einen Parkschein gezogen hatte. Der Kontrolleur ließ das nicht gelten. Den Vorschriften gemäß hätte der Autofahrer an dieser Stelle zwar gar keinen Parkschein gebraucht, aber er hätte die Parkscheibe einstellen müssen.
Auch hierzulande hat Kaiser viele Unterschiede beobachtet. »In Reutlingen beispielsweise wurden lange ›Tatort‹ und ›Tatzeit‹ aufgeführt. Und das für ein Delikt wie fünf Minuten zu lange an der Parkuhr stehen.« Tübingen dagegen habe früh auf »Ort« und »Uhrzeit« umgestellt.
»Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich anlegen«
Längst hätte Kaiser Stoff für ein vergnügliches Buch. Auch ein Kabarett-abend wäre locker drin. Zu den Ausstellungen bietet er öffentliche Führungen an und setzt sich auch zu einer Art Talkrunde mit einem ehemaligen Vollzugsbeamten aufs Sofa. Und sogar die Wissenschaft könnte profitieren. Kaisers Sammlung dokumentiert historische und regionale Unterschiede – eine Fundgrube für die Erforscher des Alltags. Das Material müsste eigentlich für einen Ehrendoktor in empirischer Kulturwissenschaft reichen, zumal Kaiser auch den Feldforschungspart abgedeckt hat. Immerhin hat der Ausstellungsmacher für seine Aufklärungsarbeit den Heilbronner Bürgerpreis erhalten.
2017 hat Kaiser seine Ausstellung erstmals in Heilbronn präsentiert, 2018 machte sie in Tübingen Station, 2019 in Baden-Baden. 2020 wäre Stuttgart dran gewesen, doch dann machte ihm Corona einen Strich durch die Rechnung. Immerhin hat er mit Stuttgart vereinbart, dass man die Sache nachholt, sobald die Pandemie das erlaubt.
Inzwischen hält er weiter Ausschau, was das Thema illustrieren könnte. Vor Kurzem hat er auf Ebay einen Original-Strafzettel aus Beverly Hills ersteigert, dabei aber festgestellt, dass die Dinger nicht mehr für einen Euro zu haben sind. Irgendwie scheint sich rumgesprochen zu haben, dass man von einem deutschen Kenner der Materie locker das Zehnfache verlangen kann, weil der ein besonderes Interesse zu haben scheint.
Besucher im Tübinger Vorstadttheater bekommen immer wieder Kostproben aus der Welt der Kontrolleure, die dem Prinzip »Ordnung muss sein«, Geltung verschaffen. Als Stadt-Sheriffs treten Uwe Kaiser und Mitstreiter Ralf Mück mit zwei Puppen auf die Bühne. »Der Manne und der Hodde« sind Kult. Die Stadt-Sheriffs nehmen bei der »Melange am Mittwoch« in kurzen Szenen die Besonderheiten der Tübinger Stadtpolitik aufs Korn, sparen nicht mit bissigen Kommentaren – und verteilen mit Wonne Strafzettel. (GEA)

