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Jeder wollte nur noch nach Hause

TÜBINGEN. Als wäre es gestern passiert – Christian Erbe, geschäftsführender Gesellschafter der Erbe Elektromedizin GmbH Tübingen, hat den 11. September 2001 noch ausgezeichnet im Gedächtnis. In Denver (Colorado) war er auf einem Kongress der American Academy of Otolaryngology – Head and Neck Surgery Foundation. Eine Gruppe von fünf Ärzten war extra aus Deutschland angereist.

Christian Erbe erlebte den 11. September 2001 in Denver. FOTO: AG
Christian Erbe erlebte den 11. September 2001 in Denver. FOTO: AG
Christian Erbe erlebte den 11. September 2001 in Denver. FOTO: AG
Unwahrscheinlich schnell war die US-Berichterstattung – Erbe erlebte die Anschläge beim Frühstücksfernsehen um 6.48 Uhr – zwei Minuten, nachdem das erste Flugzeug in den Tower geflogen war. Denver hat zu New York eine Zeitdifferenz von zwei Stunden. Noch gingen die meisten Beobachter von einem Unfall aus, bis später das zweite Flugzeug um 7.03 Uhr (Denverzeit) in das Zwillingsgebäude flog.

Der Vizepräsident der Ärtzeakademie John Day war völlig aufgelöst und »suchte Beistand bei mir«, so Christian Erbe. Generell suchten die Amerikaner ihrem Wesen nach bei Unglücken gerne den Beistand ihrer Mitmenschen. Viele amerikanische Freunde meldeten sich auch bei der Familie Erbe, die damals noch in Atlanta (Georgia) wohnte. Das Tübinger Unternehmen hat dort eine Vertriebs- und Servicegesellschaft mit heute 60 Mitarbeitern. Die Fachmesse selbst, die schon am 9. September begonnen hatte, war an diesem Tag ohne Leben. Gerüchte, Unsicherheit und Angst prägten die Stimmung. »Das war ziemlich schlimm.«

Das darauf folgende Flugverbot sorgte für ein Chaos unter den Reisenden. Aussteller und Besucher versammelten sich, um zu beraten. »Jeder wollte eigentlich nur noch nach Hause, zu seiner Familie«, so Erbe. Die meisten Teilnehmer versuchten, Mietwagen zu bekommen. Vergebens – bis weit in die Rocky Mountains hinein war kein einziger Wagen zu bekommen. Einer Gruppe von US-Ärzten gelang es, einen Autobus zu chartern, um nach New York zu fahren. Der Marktmechanismus reagiert schnell: 1 000 Dollar pro Person war der Preis. Andere Menschen kauften Gebrauchtwagen, die sie später wieder veräußerten.

Christian Erbe selbst hatte das Glück, den Mietwagen von John Day zu bekommen. Am 12. September reisten er und andere die 2 300 Kilometer lange Strecke über Kansas City (Missouri), Nashville (Tennessee) nach Atlanta zurück. 24 Stunden war er unterwegs, nur mit kleinen Stopps. Andere, wie er später erfuhr, reagierten gelassener. Die fünf Ärzte aus Deutschland ahnten die Verkehrsprobleme voraus und fuhren in die Rocky Mountains – zum Fischefangen. »Die Nerven hatte ich nicht.«

»Am 11. September 2001 weiß jeder Amerikaner, wo er war«, sagt Erbe. Der Tag habe sich wie der, an dem John F. Kennedy ermordet wurde, in die Köpfe eingebrannt. »Die Traumatisierung ist auch heute noch zu spüren.« (pgr)