KUSTERDINGEN/WANNWEIL. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Roger Stötzer wegen der Jagd Ärger hatte. »In den letzten anderthalb Jahren ist einiges passiert«, sagt der Pächter des Reviers Wannweil I. Mal wurden Jäger, die in seinem Revier einen Begehungsschein haben, angesprochen. Sie sollten doch die Jagerei lassen, nicht auf die armen Rehe schießen. Vor anderthalb Jahren wurde an Stötzers Auto, das man wegen zwei Aufklebern als das eines Jägers erkennen kann, der Heckscheibenwischer abgerissen und der Spiegel abgetreten. Was jetzt passiert ist, hat er aber noch nie erlebt.
In seinem Revier wurde in der Nähe von Kusterdingen in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar sein Hochsitz umgesägt. Bei seinem Jagdkollegen ein paar Hundert Meter entfernt zwei weitere Kanzeln. Dem feinen Sägemehl nach zu urteilen, war’s eine Handsäge, vermutet Roger Stötzer. Sicher ist er, dass mehrere Täter seinen Hochsitz auf dem Gewissen haben. »So was schafft man nicht allein«, sagt der 52-Jährige, »so eine Kanzel ist ganz schön schwer.« Die Unbekannten müssen also jeweils eine Strebe angehoben haben, während einer gesägt hat. Um die Kanzel umzustürzen, braucht’s ebenfalls einige Muskel- und Hebelkraft.
»Das sind übermotivierte Tierschützer, die sich da austoben«
Dass es hier gerade Menschen gibt, die ganz offensichtlich ein großes Problem mit der Jägerei haben, hat Roger Stötzer auch gemerkt, als er gesehen hat, dass beim Waldlehrpfad der Gemeinde Kusterdingen (»Lebendiger Wald«) nur die Tafel zum Thema Jagd beschmiert wurde – die anderen blieben unversehrt.
Fakt ist, dass die Kanzel liegt. »ANIMAL LIBERATION« haben die Täter draufgesprüht. Auf der Kanzel seines Jagd-Kollegen Jörg Werner war das Signet ALF zu sehen, das für die »Animal Liberation Front« steht. Natürlich haben die Jäger die Taten zur Anzeige gebracht. Im Polizeipräsidium Reutlingen sind solche Fälle bekannt, allerdings hören die Beamten eher selten davon, wie Christian Wörner von der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit auf GEA-Anfrage schreibt. 2022 wurden im Kreis Reutlingen drei Fälle angezeigt, in den Landkreisen Tübingen und Esslingen je vier Fälle. »2023 haben wir lediglich einen Fall im Landkreis Tübingen registriert«, so Wörner. »Die Zahlen für 2024 stehen leider noch nicht zur Verfügung, dürften sich aber tendenziell im ganzen Präsidiumsbereich im unteren, einstelligen Bereich bewegen.«
Im Landeskriminalamts (LKA) in Stuttgart weißt man laut Pressesprecherin Alexandra Vischer von der Animal Liberation Front, die sich – politisch motiviert – im Themenfeld »Tierschutz« betätigt. Straftaten werden beim LKA im Themenfeld »Tierschutz/Jagd« erfasst. »Dort kam es durch Aktivisten der Gruppe beispielsweise zu Befreiungsaktionen von Tieren«, so Vischer. Umgesägte Hochsitze hat das LKA nicht gesondert erfasst. »Für 2024 sind in Baden-Württemberg Sachverhalte im unteren einstelligen Bereich bekannt«, schreibt die LKA-Pressesprecherin.
»Gottseidank kommt das nicht so oft vor«, sagt Reutlingens Kreisjägermeister Marc Weiß. Manchmal könne man nicht sicher sein, ob vielleicht der Wind eine Kanzel umgeschmissen habe oder ob es ein missglückter Dummejungenstreich war. »Kriminell und lebensgefährlich wird’s, wenn Tritte der Leiter angesägt werden«, sagt der Kreisjägermeister aus Pfullingen. Ihm selbst ist das nie passiert, er hat aber schon davon gehört, dass das immer mal wieder vorkommt. »Wir haben Glück, dass die Menschen im eher ländlichen Raum mehr Verständnis für die Jagd haben«, so Weiß, »in der Nähe von großen Städten kommt so was öfter vor.«
»Lebensgefährlich wird’s, wenn Tritte der Leiter angesägt werden«
Torsten Reinwald, der Pressesprecher des Deutschen Jagdverbands mit Sitz in Berlin bestätigt diese Beobachtung: »In der Nähe von Städten werden immer mal wieder Hochsitze umgesägt«, sagt er. »Das sind übermotivierte Tierschützer, die sich da austoben – Menschen, die viel von Toleranz und Nächstenliebe predigen, sich aber ganz anders verhalten.« Auch Reinwald weist auf die Gefahr hin, wenn Sprossen angesägt werden.
Roger Stötzer wird seine Kanzel wieder aufbauen. Die Eckpfosten und andere wichtige Holzteile ummantelt er dann mit so viel Metall, dass man sie nicht mehr absägen kann. Vielleicht lernt er auch Schweißen, um eine Kanzel ganz aus Metall bauen zu können. »Ich kann jetzt aber nicht mehr tun, als die Leute zu sensibilisieren«, sagt der Jäger. Einen Täter mit der Säge in der Hand auf frischer Tat ertappen wird niemand. Selbst wenn: Man würde nichts tun, auch ein Jäger nicht. Hätte eh keinen Sinn. Und: »Die sind militant«, betont Stötzer.
Roger Stötzer ist ein leidenschaftlicher Jäger. Weil er gern draußen ist. Natürlich auch, weil er gern Wildfleisch isst. »Wir Jäger machen das auch, weil das unser gesellschaftlicher Auftrag ist«, sagt er. Weil Reh und Co. keine natürlichen Feinde mehr haben, braucht’s den Jäger. In Wannweil werden jährlich rund 25 Rehe erlegt – nach den Vorgaben der Forstverwaltung, die sich am Verbissgutachten orientiert, das dokumentiert, in welchem Maß Jungpflanzen von Rehen abgefressen werden. »Zum Aufbau eines stabilen, artenreichen und klimaangepassten Waldes muss man das Rehwild etwas reduzieren«, sagt Roger Stötzer, »ich bin mir meiner Verantwortung bewusst.« (GEA)
Animal Liberation Front und PETA: Gegner der Jagd
Die Animal Liberation Front (ALF) (Tierbefreiungsfront) ist laut Wikipedia eine international wirkende, dezentral organisierte Gruppe der militanten Tierschutzbewegung. Sie wurde 2004 vom FBI als terroristische Vereinigung klassifiziert. Ziel ist es, Tierversuche und Tötung von Tieren zu verhindern – in erster Linie durch Tierbefreiungen sowie Anschlägen auf Laboratorien und Tierfarmen. Die Anfänge der ALF gehen auf die »Hunters Saboteurs Association« (Jagd-Sabotage Vereinigung) zurück. Sie wurde 1964 in Großbritannien gegründet, um Jagden zu verhindern.
Auch die Tierschutzorganisation PETA (People for the Ethical Treatment of Animals, englisch: Menschen für die ethische Behandlung von Tieren) verurteilt die Jagd.
Zum Verhältnis zur ALF sagt PETA: »Auch wenn wir Gewaltanwendung ausschließen und als Mittel der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht akzeptieren, verurteilen wir die ALF nicht dafür, illegale Aktionen durchzuführen, bei denen keinem Lebewesen Schaden zugefügt wird.« (and)