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Hilfe aus der Ukraine: Yulia Kotovych arbeitet in Mössingen bei der Tafel und gibt Sprachkurse

Yulia Kotovych (42) floh vor dem Krieg. In Mössingen arbeitet sie heute freiwillig bei der Tafel und gibt Sprachkurse.

Langweilig wird es Yulia Kotovych nicht: In ihrer neuen Heimat packt die alleinerziehende Mutter an, wo es nur geht.  FOTOS: PRI
Langweilig wird es Yulia Kotovych nicht: In ihrer neuen Heimat packt die alleinerziehende Mutter an, wo es nur geht. Foto: Pr Public Relations
Langweilig wird es Yulia Kotovych nicht: In ihrer neuen Heimat packt die alleinerziehende Mutter an, wo es nur geht.
Foto: Pr Public Relations

MÖSSINGEN. Yulia Kotovych zückt ihr Smartphone. Aus dem Lautsprecher ertönt der schrille Klang lauter Sirenen, auf dem Bildschirm ist ein Video ihrer Heimatstadt Tscherkassy zu sehen, das Freunde geschickt haben. Durch die Stadt im Zentrum der Ukraine laufen keine Menschen, stattdessen blinken überall Warnleuchten.

»Jeden Tag fliegen Raketen über die Stadt«, erzählt die 42-Jährige. »Es ist unmöglich, so zu leben«, ergänzt sie. Um ihre Tochter und ihren Sohn zu schützen, floh sie Anfang März aus ihrer Heimat und lebt nun in Mössingen. Über die Hilfe in Deutschland ist die Ukrainerin sehr dankbar und möchte etwas zurückgeben.

»Nichts zu tun, ist für Yulia keine Option«, erzählt ihre Freundin Elena Evtukhova, die gebürtige Russin ist. Bereits vor über 20 Jahren lernten sich beide während ihrer Zeit als Au-Pair in Deutschland kennen. Während Elena blieb, kehrte Yulia Kotovych aus Bad Urach in ihre Heimat zurück.

»Ich bin nicht gekommen, um nur zu nehmen. Ich will helfen, wo ich kann«

Heute ist sie aus traurigem Anlass zurück. Doch auch wenn die Situation schwer ist, sagt sie: »Ich bin nicht gekommen, um nur zu nehmen. Ich will helfen, wo ich kann.« Die Deutschkenntnisse aus der Zeit damals helfen ihr dabei. »Gott sei Dank habe ich Deutsch gelernt«, freut sie sich. So ist es ihr nun möglich, von Montag bis Donnerstag Sprachkurse für Flüchtlinge aus der Ukraine zu geben und ihre Landsleute zu unterstützen. Gemeinsam mit Deutschlehrern hilft sie Geflüchteten aller Altersklassen und berichtet ein wenig stolz: »Die Leute trauen sich eher, zu reden, wenn ich dabei bin und sie unterstützen kann.«

Doch damit nicht genug: Am Vormittag arbeitet die ukrainische Powerfrau zusätzlich freiwillig bei der Tafel in Mössingen. Sie übersetzt, organisiert, putzt und gibt Lebensmittel aus. Besonders freut sie sich, Anschluss in Deutschland gefunden zu haben. »Es ist wie eine Familie hier«, sagt sie über die Arbeitsatmosphäre.

Aber auch wenn sie mittlerweile viele deutsche Freunde gefunden hat, fehlen Eltern und Bekannte aus der Heimat sehr. Vater und Mutter sind auf einem kleinen Hof zurückgeblieben und »leben in ständiger Angst«. Der Vater ihrer Kinder kämpft als Soldat im Krieg. »Zum Glück geht es allen den Umständen entsprechend gut«, erzählt Kotovych, aber die Sehnsucht nach den Liebsten ist groß. Vor allem Tochter Dascha und Sohn Danila haben Heimweh. »Meine Kinder haben fast alles verloren. Ihre Freunde, ihre Ausbildung, ihr Zuhause«, erzählt die alleinerziehende Mutter und muss sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Trotzdem ist sie mächtig stolz auf ihre Kinder und erzählt über den neunjährigen Danila: »Er geht jetzt in die zweite Klasse und spricht bereits Englisch.« Auch Freunde habe er gefunden. Schwieriger hat es Dascha. In Deutschland besucht die 16-Jährige wegen noch fehlender Deutschkenntnisse die fünfte Klasse und hat noch keinen richtigen Anschluss gefunden. Kein Wunder: »Sie ist fast eine erwachsene Frau«, sagt Kotovych und zeigt ein Bild von ihr auf dem Smartphone und muss dabei lächeln. Ihre Mitschüler seien viel jünger. Die quirlige Ukrainerin hat auch nach ihrer Flucht nie den Optimismus verloren. Für die Familie ging es mehrere Tage über Lemberg nach Polen, dann Berlin und schließlich in den Kreis Tübingen – eine echte Tortur. »Die Züge waren so voll, dass man sich kaum noch auf den Boden setzen konnte«, erinnert sich die gelernte Floristin an die Zeit. An Schlafen sei tagelang nicht zu denken gewesen. Doch das Ziel, ihren Kindern Sicherheit zu bieten, trieb sie immer weiter bis ins Schwabenland, wo sie von ihrer russischen Freundin Elena Evtukhova in Empfang genommen wurde.

In Tübingen angekommen, lebte die Familie zunächst knapp einen Monat in einer provisorischen Flüchtlingsunterkunft in Derendingen. Die Zeit dort beschreibt Yulia Kotovych als große Herausforderung: »Am Anfang war es die Hölle. Es treffen sehr viele unterschiedliche Menschen und Charaktere aufeinander.« Die Tatsache, dass es so gut wie keine Privatsphäre gebe, mache die Sache noch schwieriger. Aber: »Ich habe dort viele tolle Menschen kennengelernt, mit denen ich auch heute noch Kontakt halte«, freut sie sich heute. »Wir wurden ein Team.« Bereits vor Ort half Yulia Kotovych ihren Landsleuten, indem sie für sie übersetzte, und knüpfte Kontakte zu Sozialarbeitern und Deutschlehrern.

Nach einigen Tagen in der Turnhalle meldete sich das Sozialamt und hatte eine Bleibe für die Familie. Heute leben die Kotovychs in einer kleinen Wohnung mit einer weiteren Flüchtlingsfamilie. »Wir haben ein Zimmer zu dritt«, erzählt Yulia Kotovych und denkt wehmütig an ihr Zuhause in Tscherkassy zurück, wo die Familie mehr Platz hatte.

»Meine Kinder haben fast alles verloren. Ihre Freunde, ihre Ausbildung, ihr Zuhause«

»Manchmal schäme ich mich«, berichtet sie. Zu gerne würde sie ihre neuen Freunde aus Deutschland zu sich nach Hause einladen, doch es geht nicht. Der Platz reicht nicht aus. Besonders schlecht fühle sie sich, weil ihre Familie so viel Hilfe von Bekannten erfahre und eingeladen werde. Beispielsweise unterstützten ihre neuen Nachbarn sie direkt nach dem Einzug in die Wohnung mit Geschirr und organisierten einen Fernseher. »Wir sind sehr, sehr dankbar«, freut sich die Neu-Mössingerin.

In Deutschland gefalle ihr besonders die Ordnung und Pünktlichkeit. »Auch Kartoffelsalat mag ich«, berichtet sie und muss lachen. Dennoch hofft Yulia Kotovych auf Frieden in der Ukraine, um zu ihrer Familie zurückkehren zu können. »Viele Menschen wollen wieder zurück. Mittlerweile ist es ihnen egal, ob Krieg ist oder nicht«, berichtet die Ukrainerin. Für sie selbst ist eine vorzeitige Rückkehr keine Option: »Die Sicherheit meiner Kinder geht vor.« Bis dahin wird die Powerfrau sich weiter engagieren, wo es ihr möglich ist. »Sie hilft jedem, ich kenne sie«, ist sich Freundin Elena Evtukhova sicher. »Es gibt keine Zweite wie Yulia.« (GEA)

Freundin Elena Evtukhova (links) hilft Danila, Dascha und Yulia Kotovych nach ihrer Ankunft in Tübingen.
Freundin Elena Evtukhova (links) hilft Danila, Dascha und Yulia Kotovych nach ihrer Ankunft in Tübingen.
Freundin Elena Evtukhova (links) hilft Danila, Dascha und Yulia Kotovych nach ihrer Ankunft in Tübingen.