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Heftiger Streit zwischen zwei Brüdern im Steinlachtal endete fast tödlich

Ein 26-Jähriger aus dem Kreis Tübingen verletzte seinen Bruder mit mehreren Messerstichen schwer. Der Täter ist psychisch krank und möglicherweise schuldunfähig.

Tübinger Landgericht verhandelt seit Montag den blutigen Streit zwischen zwei Brüdern im Steinlachtal.
Tübinger Landgericht verhandelt seit Montag den blutigen Streit zwischen zwei Brüdern im Steinlachtal. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Tübinger Landgericht verhandelt seit Montag den blutigen Streit zwischen zwei Brüdern im Steinlachtal.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

TÜBINGEN. Schon seit Jahren bedrohen und streiten sich zwei Brüder in einer Gemeinde im Steinlachteil. Sie sind beide psychisch angeschlagen. Am 16. November 2024 eskalierte die Situation. Der eine Bruder suchte den anderen an dessen Wohnort auf, um ihm eine »Respektschelle« zu verpassen, wie er sagte. Der andere wehrte sich mit einem Messer dagegen, stach mehrmals zu und verletzte den Angreifer lebensgefährlich. Der Bruder überlebte nur durch eine Notoperation. Seit Montag verhandelt das Tübinger Landgericht den schwierigen Fall.

Am ersten Prozesstag kam es gleich zu einer dramatischen Situation im Gerichtssaal. Als das Opfer der Messerstiche über seine offenbar sehr schwierige Kindheit, die von Gewalt und wohl auch von sexuellen Übergriffen geprägt war, sprach, erlitt der 25-Jährige einen psychischen Zusammenbruch. Er erstarrte zuerst für einige Minuten, um dann heftig zu hyperventilieren. Glücklicherweise waren mehrere Mediziner im Raum, die dem Mann sofort zu Hilfe eilten. Nach einer guten halben Stunde hatte sich der 25-Jährige wieder erholt und konnte den Rest der Befragung vor Gericht beenden.

»Respektschelle« für den Bruder

Psychische Probleme hat auch der Beschuldigte. Im Prozess vor dem Tübinger Schwurgericht geht es deshalb auch darum, ob der 26-Jährige bei der Tat schuldunfähig war und, weil er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen könnte, in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden müsste.

Doch was ist an jenem 16. November 2024 eigentlich geschehen? »Ich hatte keinen Nerv mehr«, erzählte das 25-jährige Opfer dem Gericht. Sein Bruder habe jeden Tag per WhatsApp Morddrohungen ausgesprochen, »er hat mich tyrannisiert. Er sollte endlich Ruhe geben«. Deshalb entschloss sich der 25-Jährige mit einem Kumpel seinen ein Jahr älteren Bruder, der in einem kleinen Ort im Steinlachtal wohnt, aufzusuchen, um ihm eine »Respektschelle« zu verabreichen, sprich eine saftige Ohrfeige zu geben - oder wie er es gestern vor Gericht drastischer beschrieb, »ihm eine aufs Maul zu hauen«.

Schlagring in der Tasche

Er fuhr mit einem Kumpel zum Wohnort des älteren Bruders. Gemeinsam lockten sie den 26-Jährigen vors Haus. Als er im Hof auftauchte, begrüßte ihn zuerst der Kumpel. Der jüngere Bruder hatte sich indes mit einem Schlagring in der Tasche in einer dunklen Ecke versteckt.

Dann ging der überfallartige Angriff los. Der 25-Jährige sprang von hinten auf seinen älteren Bruder zu. Dabei ging allerdings das Hoflicht per Bewegungsmelder an. Der Angegriffene drehte sich um und es kam sofort zu einem Gerangel mit gegenseitigen Schlägen. Schließlich nahm das spätere Opfer den älteren Bruder in den Schwitzkasten.

In dieser Situation zog vermutlich der 26-Jährige das Messer und stach zu. »Ich habe doch nur versucht, mich zu verteidigen«, meinte der Beschuldigte am Montag entschuldigend. Er habe seinen Bruder nicht töten wollen. Er traf ihn allerdings mehrfach mit dem Klappmesser am Oberkörper und den Armen. Ein Stich drang in die Brusthöhle des Opfers ein. Dies hätte dazu führen können, dass die Lunge kollabiert. Der Stich war deshalb lebensgefährlich.

Opfer bemerkte die Stiche zuerst nicht

Nach den Stichen griff der 26-Jährige seinen jüngeren Bruder noch mit einem Laserpointer an. Das Opfer zog sich mit seinem Kumpel zurück und die zwei rannten schließlich davon. Erst nach ein paar Metern bemerkte er, dass er getroffen worden war und stark blutete. Der Kumpel verständigte den Notarzt, der das Opfer schnell in die Tübinger Klinik bringen ließ.

Der 26-jährige Messerstecher schilderte am Montag ganz ruhig und sachlich den Vorfall. Sein Bruder sei im Hof hinter ihm aufgetaucht und habe sofort auf ihn eingeschlagen. Dass er mit dem Messer seinen Bruder verletzt habe, das habe er selbst gar nicht mitbekommen. »Er stand noch perfekt und kampfbereit da«, so der Beschuldigte.

Der 26-Jährige sprach davon, dass er es gewesen sei, der von seinem Bruder oft aggressiv bedroht worden sei. Er habe doch nur seine Ruhe haben wollen, sein Bruder habe sich aber immer wieder bei ihm gemeldet und provokante Nachrichten geschickt. Er sei an dem Abend nur aus seiner Wohnung gegangen, »mit der Möglichkeit mit ihm zu reden und die Sache im Guten zu klären«.

Im Gerichtssaal

Gericht: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Julia Merkle, Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Sabine Ayen, Uwe Knorre. Staatsanwalt: Patrick Pomreinke. Verteidiger: Christian Niederhöfer. Nebenklagevertreterin: Julia Geprägs. Rechtsmedizin: Dr. Frank Wehner. Psychiatrischer Sachverständiger: Dr. Stephan Bork.

Bis zu diesem Zeitpunkt klangen die Schilderungen nachvollziehbar und logisch. Doch dann erklärte der 26-Jährige, dass er seinem Bruder noch ein Stück weit nachgelaufen sei. Dabei sei er aus seiner eigenen Persönlichkeit herausgetreten. Er habe zwei Persönlichkeiten, in einem inneren und einem äußeren Kreis. Die eine Persönlichkeit versuche in solchen Stresssituationen, die andere zu beschützen.

Staatsanwalt Patrick Pomreinke beschrieb das Krankheitsbild des 26-jährigen Beschuldigten, der zurzeit in Bad Schussenried untergebracht ist, als dissoziative Identitätsstörung und posttraumatische Belastungsstörung. Möglicherweise wurden diese Störungen durch die schwierige Kindheitsphase im Elternhaus hervorgerufen. Im Hintergrund steht allerdings auch ein starker Cannabis-Missbrauch, beim Täter wie beim Opfer.

Der Prozess wird am kommenden Donnerstag fortgesetzt. (GEA)