MÖSSINGEN. Seit 1977 findet der Ökumenische Stammtisch in Mössingen statt. Selten war der Andrang dabei so groß wie am Dienstag. Schon im Vorfeld hatte Hausherr Pfarrer Uwe Braun-Dietz die Martin-Luther-Kirche zur Verfügung gestellt, das katholische Gemeindehaus schien zu klein für den Besuch von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl. Und auch hier waren fast alle Plätze besetzt. Gohl sprach zum »Stand der Ökumene«.
Viele Menschen im Publikum kennen den lockigen Endfünfziger noch als jungen Burschen und Sohn des vormaligen Peter-und-Paulskirchenpfarrers Ulrich Gohl. In den Siebziger- und Achtzigerjahren war Mössingen die Heimat des heutigen Oberhaupts der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Derzeit lebt er in Nehren. Gohl darf viele Hände schütteln und Bekannte begrüßen. Im Saal sitzt auch sein mittlerweile ergrauter Biologielehrer. Ein »Heimspiel« hatte Pfarrer Braun-Dietz versprochen.
»Keine ist besser, keine schlechter, manchmal verträgt man sich besser, mal nicht«
Gohl fragte zunächst, welche Ökumene er zuerst ansprechen solle. Die Innerevangelische? Die zwischen Katholiken und Protestanten? Er entschied sich für eine Betrachtung entlang seiner eigenen Biografie. Ernst-Wilhelm Gohl, der im vergangenen Sommer zum Nachfolger von Frank Otfried July ins Amt eingesetzt worden war, erinnerte sich noch gut an Gottesdienste, wo er neben seinem Vater Ulrich in der katholischen Kirche kniete. »Völlig normal« empfand er es damals und heute. Was freilich nicht überall in Württemberg so war. Wer eine Braut mit »falscher« Konfession als Ausdruck ganz praktischer Ökumene ins Dorf auf der Alb brachte, hatte es nicht leicht, erzählte Gohl schmunzelnd.
Während seiner Studienzeit, so berichtete der frühere Ulmer Dekan lebhaft, hatte er eine Messe des damaligen Papstes besucht und war von den Überzeugungen des römisch-katholischen Kirchenoberhaupts einigermaßen vor den Kopf gestoßen. Einzig und allein die katholische Kirche sei die wahre Kirche Gottes, und im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde den Protestanten immerhin der Status einer kirchlichen Vereinigung zugesprochen. Vor dieser einseitigen Einstellung wollte der junge Theologiestudent Gohl dann doch nicht das Knie beugen.
Anschaulich schilderte er die ökumenische Praxis an seiner ersten Pfarrstelle. Im ökumenischen Gemeindezentrum in Böblingen wurden "im selben Gottesdienst evangelische und katholische Kinder getauft", von Pfarrern der jeweiligen Konfessionen. Von einem Kollegen aus jener Zeit hatte er den Anstoß bekommen, die Kirchen als Familien zu betrachten. »Keine ist besser, keine schlechter, manchmal verträgt man sich besser, mal nicht«, sagte Ernst-Wilhelm Gohl.
Als er auf eigene Fehler zu sprechen kam, nannte er das Datum vom 24. Februar 2022, als der Krieg in der Ukraine begann. Sofort sei er zu Pater Maxim von der russisch-orthodoxen Kirche in Ulm gegangen, dessen Gemeinde in der Valentinskapelle gleich beim Ulmer Münster ihre Gottesdienste feiert.
Pater Maxim müsse sich sofort von dieser Aggression distanzieren. Daraufhin herrschte eine Weile Funkstille zwischen den beiden Geistlichen. »Da hätte ich mich besser zurückgenommen«, weiß Gohl heute. Sie wollten den Krieg nicht in ihrer Gemeinde haben, erläuterte Pater Maxim ihm wenig später. »Ukrainer und Russen haben in der Valentinskapelle gemeinsam ihren Glauben gelebt«, erklärte der Landesbischof. Eben auch eine Form der Ökumene. Immerhin sei das Foto von Patriarch Kyrill, der den Krieg rechtfertigt, aus dem Schaukasten der Kapelle verschwunden. »Es ist Gotteslästerung«, stellte Gohl auf Nachfrage aus dem Publikum klar, »wenn Patriarch Kyrill den russischen Angriff religiös verbrämt.«
»Ukrainer und Russen haben in der Kapelle gemeinsam ihren Glauben gelebt«
Besondere Beziehungen unterhält die Evangelische Landeskirche Württemberg auch nach Georgien. Gohl wird als ihr oberster Geistlicher in Kürze in die Hauptstadt Tiflis reisen, wo Schwaben vor vielen Jahrhunderten Kirchengemeinden gegründet hatten. Den evangelisch-lutherischen Kirchenchor aus Tiflis hatte Gohl zu seiner Amtseinsetzung nach Stuttgart eingeladen. In der Diskussionsrunde kam er auch auf das Thema Kirchenaustritte zu sprechen. »Viele Menschen denken heute, sie brauchen keine Kirche mehr«, stellte Gohl fest. Er rief alle Gläubigen auf, den Zweiflern klar zu machen, warum sie Mitglied der Kirche sind. (GEA)