TÜBINGEN. Gleich zur Eröffnung kamen die ersten Frühschwimmer aus dem Freibad und es bildete sich eine Warteschlange an der Theke. Gemischtes Obst aus dem Kühlregal war ebenso gefragt wie Kaffee. Den ganzen Tag über erlebte das neue Café Mehrrettich in der Neckarhalde 70 regen Besucherzuspruch, immer wieder wurden Stühle gesucht und gerückt. Entstanden ist ein gemütlicher Ort ohne Konsumzwang, in dem man für Getränke bezahlt, was man möchte, und gerettete Lebensmittel eine zweite Chance bekommen. Nachmittags gab es Musik und Kinderprogramm.
Ehrenamtliche packen an
»Die Wertschätzung für Lebensmittel steht bei uns im Mittelpunkt«, sagte Thilo Minich vom Vorstand des Betreibervereins Mehrrettich. Was noch gut verzehrbar ist, aber bei Supermärkten, Bäckereien, Tankstellen und Mensen in den Müll geflogen wäre, wird genutzt. Die Theke des bisherigen »KaffeeKränzle«, das Ende März schloss, bauten die Ehrenamtlichen zurück und verkleinerten sie. Mittig ist nun mit dem »Fairteiler« das Herzstück: Ein Regal für gerettete Lebensmittel, aus dem sich die Leute bedienen können.
Entstanden aus der Foodsharing-Bewegung, wollte der Verein eigentlich ein Café in der Tübinger Innenstadt eröffnen. Mit einer vor anderthalb Jahren gestarteten Crowdfunding-Kampagne kamen 27.000 Euro zusammen. »Seit dem Abschluss der Spendenkampagne 2023 suchen wir nach einem Standort«, berichtete Minich. »Wir haben unsere Idee der Stadtverwaltung und den Fraktionen im Gemeinderat ausführlich vorgestellt.« Nach dem Bebauungsplan für die Innenstadt sind in dieser allerdings keine zusätzlichen Cafés und Gastronomiebetriebe möglich.
Zwar sieht sich das Mehrrettich auch als »Bildungsort«, an dem Vorträge, Schnippel-Parties und Einmachkurse künftig angeboten werden sollen, ist aber als Gastronomiebetrieb eingestuft. »Wir sind deshalb sehr froh über diesen Standort«, sagte Minich. Mit zusätzlichen Fördermitteln, Soli-Veranstaltungen und Spenden könnte die Ablöse von 45.000 Euro gestemmt werden. Zusätzlich flossen in den Umbau über 10.000 Euro. Betrieben wird das Café aktuell von zehn Minijobbern. An den Wochenenden sind Ehrenamtliche tätig. Im Herbst soll eine halbe Stelle geschaffen werden, um die Bildungsangebote voranzubringen.
Trotz neuer Kalkulation landet vieles im Müll
»Wir suchen ständig nach finanzieller Unterstützung und Fördermitteln«, so Minich. Seit dem Ukraine-Krieg und den gestiegenen Lebensmittelpreisen werde in den Supermärkten etwas besser kalkuliert. Allerdings fliegt noch immer genug in den Müll. »Über 50 Prozent der Lebensmittel werden in Privathaushalten weggeworfen«, sagte Minich. Daher verfolgt der Verein vor allem das Ziel, niederschwellig Bewusstsein zu schaffen. Wer zum Beispiel in den Urlaub fährt, kann übrige Lebensmittel im Café vorbeibringen. Mit dem Regal, Personal vor Ort und der Kühlung ist die Lebensmittelsicherheit dort höher als in anderen Foodsharing-Regalen. Die »Lebensmittelretter« betonen, dass sie nach der Tafel dran sind und ihr keine Konkurrenz machen möchten.
Sie nehmen auch kleinere Mengen und gekochte Lebensmittel mit. Diese geben sie an Bedürftige ab, teilen mit den Nachbarn und essen die Produkte selbst. Was noch genießbar ist und im Regal steht, wird auch im Café kostenlos abgegeben. Und es gilt wie an anderen Verteilstellen das Prinzip: Was weg ist, ist weg. (stb)