TÜBINGEN. Vorgezogener Aschermittwoch im Wahlkreis Tübingen-Hechingen. Gut 18 Tage vor dem schlimmsten Datum im Kalender der Fasnetsnarren, werden auch die Politiker mit der Vergänglichkeit konfrontiert. Auf den Wahlparties der CDU, SPD, der Grünen, der Linke und der FDP wurde zwar durchweg gefeiert. Aber Jubel fühlt sich irgendwie anders an. Die Spannweite lag zwischen Freude, Bangen und Hoffen. Wobei unklar bleibt, wie die AfD ihren hohen Stimmenzuwachs zelebrierte. Während die anderen Parteien perlschnurartig in Gaststätten zwischen Rottenburg und Lustnau entlang des Neckars öffentlich mit Anhängern und Wahlhelfern zusammenkamen, hatten sich die »Blauen« verständlicherweise an einen geheim gehaltenen Ort verzogen. »Um unsere Gäste und Wirte vor undemokratische Protestaktionen zu schützen«, wie der Kreisverband im Vorfeld mitteilte. Auch konnte in der mutmaßlichen Hochstimmung des Abends keine Telefonverbindung zum Wahlkreis-Kandidaten Daniel Winkler hergestellt werden.
Aus der Bürgerwache in Rottenburg ist zu berichten, dass CDU-Kandidat Daniel Christop Naser kurz nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnung unter tosendem Applaus von rund hundert Parteifreunden in den Saal einmarschierte. Ob der Nachfolger von Annette Widmann-Mauz die noch amtierende Abgeordnete im Bundestag beerben kann, wird sich erst nach Drucklegung des GEAs zeigen, wie der Vikar kritisierte. »Daran ist das undemokratische neue Wahlrecht der Ampel-Regierung schuld.« Es sei ungerecht, wenn Tausende Wähler nicht mehr abgebildet sind.
Hundert Tage nach seiner Nominierung zog Naser ein positive Bilanz: »Über 160 Wahltermine haben wir zusammen gemeistert. Ihr seid der Wahnsinn! Ich danke euch von ganzem Herzen«, rief er in die Menge. Er freue sich, »dass CDU/CSU den Sieg eingefahren haben und die Ampel-Koalition rund 17 Prozent verloren hat. Das ist heftig.« Man sehe aber gleichzeitig »eine Fragmentierung in der Parteienlanschaft, die uns zu denken geben muss.« Die CDU sei nun gefordert, »in der Mitte zusammenzuführen und Kompromisse zu schließen.«
Trotzige Jubelstimmung in der Gaststätte des Tübinger Hauptbahnhofs. Eng sitzen die Genossen zusammen, als Florian Christoph Zarnetta im vollbesetzten Lokal auftaucht. »Wir von der SPD sind nach der Ampel nicht durchgedrungen. Nicht mit unserem Personal, nicht mit Inhalten, nicht mit der Kritik an der FDP. Das ist heute bitter und wir müssen intensiv drüber sprechen«, sagt der Newcomer und Nachfolger vom anwesenden Martin Rosemann. Immerhin, tröstet er sich: »So richtige Jubelstimmung gibt es auch bei der Konkurrenz heute nicht.« Auf jeden Fall: »Am Einsatz der Genossen hat's vor Ort nicht gelegen. Und das gibt mir Rückenwind für die Zukunft.« Mit seinem Listenplatz 26 hat er angesichts der Zahlen keine Chance in den Bundestag einzuziehen.
Mit Blumen aus allen Ortsverbänden regelrecht überschüttet wurde Gülay Asli Kücük im Café Haag. »Mein erster Eindruck? Sehr gut! Wir haben uns in Tübingen stabil gehalten, mit den wenigsten Verlusten aus der Ampel-Regierung.« Sie sei dankbar, dass die Arbeit in der Regierung dennoch anerkannt wurde, sagte sie in der brechend vollen Gaststätte. Angesichts der rund 43 Prozent der Stimmen, die sie in Tübingen holte - völlig konträr zum Landestrend - mache sie sich berechtigte Hoffnung, Chris Kühn zu beerben. Der hatte vor einem Jahr sein Mandat niedergelegt und damit Tübingen um einen Vertreter in Berlin gebracht.
»Wir haben um 18 Uhr wie wild gejubelt«, freut sich Ralf Wolfgang Jaster im vollen »Riva«. Der Gewerkschaftssekretär hat die Linke in Tübingen zu einem nicht mehr erwarteten Höhenflug geführt. Kein hämischer, sondern eher ein dankbarer Blick Richtung BSW. »Ohne diese Abspaltung wären wir jetzt nicht so stark geworden.« Zitterpartie hingegen im noblen »Japengo«. FDP-Mann Julian Simon Grünke sagt: »Die Stimmung hier ist deutlich positiver als auf Bundesebene. Wir hoffen, dass wir es heute Nacht noch reinschaffen. Wenn es nicht gelingt, geben wir ab Montag Vollgas, denn das Land braucht ein liberale Partei.« (GEA)