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Aktuell Justiz

Die wichtigsten Landgerichts-Prozesse in Tübingen 2024

Missbrauch, Messerattacken und sogar Mord: Vor dem Landgericht Tübingen wurden im vergangenen Jahr schwerwiegende Fälle verhandelt, teils mit überraschenden Urteilen. Der GEA hat einige der Prozesse gesammelt.

Das Landgericht Tübingen ist eines von acht Landgerichten, die dem Oberlandesgericht Stuttgart untergeordnet sind. Im Straf- und
Das Landgericht Tübingen ist eines von acht Landgerichten, die dem Oberlandesgericht Stuttgart untergeordnet sind. Im Straf- und Zivilprozess werden hier auch die Berufungen und Beschwerden gegen Amtsgerichtsurteile verhandelt. Foto: Stephan Zenke
Das Landgericht Tübingen ist eines von acht Landgerichten, die dem Oberlandesgericht Stuttgart untergeordnet sind. Im Straf- und Zivilprozess werden hier auch die Berufungen und Beschwerden gegen Amtsgerichtsurteile verhandelt.
Foto: Stephan Zenke

TÜBINGEN. Vor dem Landgericht Tübingen werden Verfahren aus den Landkreisen Calw, Reutlingen und Tübingen verhandelt. Das kann in erster Instanz geschehen, beispielsweise sobald das erwartbare Strafmaß vier Jahre übersteigt oder besonderes öffentliches Interesse an dem Fall besteht. Häufig werden hier aber auch Berufungen und Beschwerden gegen Amtsgerichtsurteile aus den zugeordneten Landkreisen bestritten. Der GEA hat einige der Verfahren des vergangenen Jahres, die unsere Reporter begleitet haben, zusammengefasst und gesammelt.

Messerattacke aus dem Nichts. Im Mai 2023 hat ein 41-jähriger Mann einer Kundin in einem Tübinger Buchladen ohne Vorwarnung die 16 Zentimeter lange Klinge eines Küchenmessers in den Rücken gerammt. Die Frau überlebte dank einer Notoperation knapp. Der studierte Theologe und Lehrer kannte sein Opfer nicht. Er habe ein Verbrechen begehen wollen, das ihn möglichst lang hinter Gitter bringen würde, erklärte der 41-Jährige im vergangenen Februar vor dem Schwurgericht. Durch eine lebenslange Haftstrafe gedachte er, seinem Schuldenberg zu entkommen. Zudem sei er durch seine finanzielle Situation psychisch am Ende gewesen, habe angefangen zu trinken und sich vor seiner Familie geschämt - die nichts von den Schulden wusste. »Ich befand mich auf einem katastrophalen Irrweg«, sagte der Lehrer vor den Richtern. Wegen versuchten Mordes wurde der geständige Theologe zu elf Jahren Haft verurteilt. Strafmildernd wirkten sich seine widerstandslose Festnahme, seine Reue und die übernommene Verantwortung aus. Zudem litt der Verurteilte laut einem psychiatrischen Gutachten an einer Persönlichkeitsstörung.

Aus Punk wurde Neo-Nazi

18-jähriger Neo-Nazi sticht auf US-Amerikaner ein. In seiner Urteilsbegründung sprach der Vorsitzende Richter von einem »außerordentlich ungewöhnlichen Verfahren«: Ein 18-jähriger Nazi - einige Monate zuvor noch in der Punk-Szene unterwegs - hat sich im Juni 2023 vor dem links-autonomen Reutlinger Jugendzentrum »Kulturschock Zelle« mit einem 37-jährigen US-Amerikaner gestritten und diesem ein Messer in die Herzgegend gerammt. Danach soll sich der Täter entfernt und dabei den Hitlergruß gezeigt haben. Das Opfer überlebte den Angriff wie durch ein Wunder. Tage zuvor war der 18-Jährige durch das Abspielen rechtsradikaler Musik der verbotenen Band »Landser« aufgefallen, hatte auch dabei den Hitlergruß gezeigt. Deshalb spielte die politische Gesinnung des gerade Volljährigen vor Gericht eine besondere Rolle. Die sei »rechtsextrem, gegen Ausländer halt«, wie der Angeklagte damals wenig spezifisch angab. Am Ende des Verfahrens führte der Vorsitzende Richter Dirk Hornikel aus, dass kein Ausländerhass ausschlaggebend für die Attacke war, sondern der Werdegang des jungen Mannes: Drogen, Obdachlosigkeit, Entwurzelung. Der 18-Jährige wurde im vergangenen März wegen versuchtem Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Volksverhetzung zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.

Mord aus Eifersucht. Sie haben sich in Polen auf der Flucht aus der Ukraine kennengelernt, verliebt und es sicher nach Deutschland geschafft. Doch die Beziehung hielt nicht: Streitereien, Schläge, Eifersucht. Dass seine Ex-Freundin dann noch einen neuen Partner gefunden hatte, gab dem 46-jährigen Ukrainer den Rest: Er tötete im September 2023 seine Lebensgefährtin in einer Tübinger Flüchtlingsunterkunft mit einem Jagdmesser. »Wir sehen das Mordmerkmal aus niederen Beweggründungen, Eifersucht, erfüllt«, urteilte der Vorsitzende Richter Armin Ernst am letzten Verhandlungstag. Der Angeklagte sei zudem voll schuldfähig, was die Telefonate nach seiner Tat zeigten: Dabei gab er zu, seine Freundin getötet zu haben, »und um sicherzugehen, noch zweimal ein Stich in den Hals.« Seine lebenslange Haftstrafe nahm der 46-Jährige mit spöttischem Lächeln und leichtem Kopfschütteln zur Kenntnis.

Polizisten in Arm gebissen

Fast einen Polizisten umgebracht. Ein 33-jähriger Gambier hat im vergangenen Oktober vom Landgericht Tübingen eine zweite Chance bekommen: Er wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, nachdem er beim ersten Prozess vor dem Tübinger Amtsgericht noch zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verdonnert wurde. Belangt wurde er für Beleidigung, Bedrohung und Körperverletzung. Auf einem Parkplatz am Tübinger Hauptbahnhof hatte der Gambier erst Bahnmitarbeiter beleidigt und mit einem Fahrradschloss bedroht, danach - als er das Schloss nicht aus der Hand legen wollte und die Gleise betreten hatten - leistete er massiven Widerstand gegen seine Verhaftung. Dabei biss er einen Polizisten in den Arm, ein anderer fiel mitsamt dem Angeklagten auf die Gleise und verletzte sich dabei lebensgefährlich. Das mildere Urteil erklärte Richter Michael Allmendinger durch die Einsicht des Mannes: Er sei nicht vorbestraft und zeigte Reue, nahm aber durch sein unerklärlich aggressives Handeln die Verletzungen der Beamten in Kauf.

Zwangsprostitution, Vergewaltigung und Betrug. Im Dezember vergangenen Jahres wurde ein 41-jähriger Mann aus Reutlingen zu sechs Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Der vorsitzende Richter Christoph Kalkschmid sah es als erwiesen an, dass der 41-Jährige seine Partnerin und seine damals noch minderjährige Stieftochter aus einer früheren Beziehung mehrfach zur Prostitution gezwungen, die 15-Jährige zudem mindestens neun Mal vergewaltigt hatte. Um das Geld zu waschen, das er den beiden abknöpfte, verschleierte er die Zahlungen in einer selbst gegründeten Praxis für psychologische Beratung - ohne eine Ausbildung als Psychologe zu haben. Als die Frau und das Mädchen aussteigen wollten, bedrohte und erpresste er beide, gab der Minderjährigen Kokain, um sie gefügiger zu machen. Zusätzlich zu seiner Haftstrafe muss der 41-Jährige 40.000 Euro an die mittlerweile volljährige Stieftochter zahlen.

Streit bei der Feuerwehr eskaliert

Beleidigung im Feuerwehrhaus. Im August 2022 soll ein schwelender Streit innerhalb der Kirchentellinsfurter Feuerwehr aufgeflammt sein: Ein Feuerwehrmann soll sowohl Bürgermeister Bernd Haug als auch Ortsbaumeister Martin Lack als »Hurensöhne« beleidigt haben. Daraufhin erstattete der Schultes Strafanzeige, der Gemeinderat warf den Mann aus der Wehr. Vor einem Amtsgericht wurde der Angeklagte der Beleidigung zunächst freigesprochen - zu unterschiedlich waren die Zeugenaussagen zu der angeblich gefallenen Beleidigung. Doch der Prozess ging in Berufung vor das Landgericht Tübingen. Er will »Ruhe in die Feuerwehr reinbringen«, sagte Richter Michael Allmendinger bei dem überraschend kurzen Verhandlung im vergangenen November: Anstatt die zahlreichen Zeugen zu hören, haben sich Anklage und Verteidigung auf einen Ausgleich geeinigt. Der Feuerwehrmann wollte nach Aussage seines Anwalts so verhindern, dass seine Kollegen erneut aussagen müssten. Insgesamt 1.000 Euro spendete der Angeklagte an zwei soziale Vereine, der in diesem Fall nicht verurteilt wurde. (GEA)