TÜBINGEN. Patienten mit seltenen Krankheiten durchlaufen meist einen langen Leidensweg: Hausärzte können nichts finden, es beginnt eine Odyssee von Spezialist zu Spezialist. Vor 15 Jahren durchliefen Menschen mit seltenen Erkrankungen durchschnittlich 7,3 Arztpraxen, ehe sie eine (Verdachts-) Diagnose für ihre oft belastenden Symptome bekamen.
Im Jahr 2010 war das Bewusstsein für seltene Erkrankungen bei Ärzten gering. Damals gab es noch keine Anlaufstellen, Versorgungsstrukturen oder Fortbildungsangebote. Bis sich, in jenem Jahr, Mediziner verschiedener Gattungen an Universitäten in Deutschland in Zentren für seltene Erkrankungen zusammen fanden. Das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) an der Uniklinik Tübingen war eins der ersten seiner Art.
Interdisziplinäre Vernetzung beschleunigt Diagnose
Heute gibt es 36 Zentren für Seltene Erkrankungen in Deutschland, die als Anlaufstellen für Betroffene, sowie behandelnde Ärztinnen und Ärzte dienen. Für Holm Graeßner, Geschäftsführer des ZSE Tübingen, gibt die gute interdisziplinäre Vernetzung den Ausschlag, um seltene Erkrankungen diagnostizieren zu können: »Wir haben heute eine große Anzahl an Expertinnen und Experten, um zu Diagnosen zu kommen und Therapien zu entwickeln.«
Graeßner und sein Kollege Olaf Rieß, Mitgründer des ZSE Tübingen, ließen am Freitag im Neckawa die ersten 15 Jahre Revue passieren. Für Rieß, der aus dem Bereich der Genetik stammt, ist der Blick auf die Gene der Patienten der Schlüssel für die Behandlung seltener Krankheiten schlechthin: »Deutschland ist das erste und einzige Land, wo Patienten ihr Genom sequenzieren lassen können – und die Kassen müssen es bezahlen.«
Es gibt rund 8.000 verschiedene seltene Krankheiten
Zusammen mit der Wissenschaftsjournalistin Ulrike Ostner blickten Graeßner, und Rieß auf die Anfänge zurück. Sie betrachteten die Fortschritte und Erfolge, stellten Kollegen und deren Spezialgebiete vor, dazu kamen Patientinnen und Patienten zu Wort, die ihre Leidensgeschichte schilderten und von ihren individuellen Therapien berichteten.
Laut Ludger Schöls, ärztlicher Direktor am Zentrum für Neurologie der Uniklinik Tübingen, gibt es rund 8.000 bekannte seltene Krankheiten. Im Bereich der Neurologie habe die Behandlung von Schlaganfall-Patienten früher alles dominiert. Mittlerweile habe man eine interdisziplinäre Akademie als Gegengewicht eingerichtet: Die Mitglieder träfen sich einmal im Monat online, um sich über seltene Krankheiten, deren Diagnosen und Therapien auszutauschen.
»Tübinger Platte« hilft Menschen, die mit Gaumenspalte geboren wurden
Michael Krimmel stellte eine echte Erfolgsgeschichte vor: Die sogenannte »Tübinger Platte«, die in Krimmels Bereich, in der Tübinger Mundgesichtsklinik, entwickelt wurde. Sie hilft beispielsweise Babys, die mit Gaumenspalte oder zu kleinem Unterkiefer geboren wurden. Diese Platte verhindert, dass die Zunge in den Rachen rutscht und so die Atmung erschwert. »Mittlerweile gibt es viele Nachahmer«, stellte Krimmel fest.
Katharina Rall, Leiterin der Frauenklinik, stellte eine heute 28-jährige Patientin vor, bei der im Alter von 14 Jahren zunächst festgestellt wurde, dass sie keine Periode bekam. Zwei Jahre später sah sie eine Dokumentation über das MRKH-Syndrom: Daran leiden Mädchen und Frauen, denen die Gebärmutter fehlt. »Man hat das Gefühl, man ist keine Frau«, sagte die heute 28-Jährige. Die damals 16-Jährige und ihre Eltern wandten sich an die Tübinger Frauenklinik.
Oft Fehldiagnosen und falsche Therapien bei Mädchen mit MRKH-Syndrom
Katharina Rall stellte fest: »Fast die Hälfte der Patientinnen mit diesem Krankheitsbild wird fehldiagnostiziert und zunächst falsch therapiert.« Heute werde das Bewusstsein für diese Krankheit jedoch immer größer. Am ZSE Tübingen arbeite die Frauenklinik etwa mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammen, denn die begleitenden Symptome umfassen rund 75 Prozent des Krankheitsbilds.
Die Therapie dieser Patientin umfasste plastische Chirurgie: Für sie wurde eine Vagina hergestellt. Zudem bekam sie eine Gebärmutter transplantiert. Die Spenderin war ihre eigene Mutter. Die Patientin gebar mittlerweile zwei gesunde Kinder, die Gebärmutter wurde danach wieder entfernt. Sicht- und hörbar berührt dankte die Frau den Medizinern, vor allem aber ihren Eltern und ihrem Mann für deren Unterstützung. (GEA)