Bei den Beduinen im Sinai hat die 61-Jährige, die seit 1984 in Deutschland lebt, viel für ihr eigenes Erzählen gelernt. »Sie sind so fantasievoll und lustig und beschreiben alles so plastisch. Das sind Menschen, die nie in einer Schule waren. Aber wenn sie erzählt haben, war das einfach großartig.«
»Bei uns hat man nie vorgelesen, immer nur erzählt«Dabei hat das Geschichtenerzählen auch in ihrer Familie Tradition. Ihr Großvater aus Persien, erinnert sie sich, war ein ganz toller Erzähler, und ihr Vater hat diese Kunst weitergetragen. »Bei uns hat man nie vorgelesen, immer nur erzählt.« In den kalten Wintern saß die Familie zusammen, in Decken gehüllt und unter dem Tisch ein Gefäß mit Kohlen. Um die Zeit zu vertreiben, erzählte man sich Geschichten, so wie sich die Frauen Geschichten erzählten beim Kochen.
Die Freude daran hat Revital Herzog von ihrem Vater geerbt. Er hat in den Untergrundeinheiten der jüdischen Palmach gekämpft, wo sich die Männer am Lagerfeuer mit Geschichten entspannten. Nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg war er Schlosser und Klempner, und wenn die Tochter ihm geholfen hat, hat er sich neben dem Hämmern und Schrauben Geschichten einfallen lassen. »Einmal haben wir einen Zaun um einen Friedhof gemacht, und er hat mir alle möglichen Schauergeschichten aufgetischt.«
Jüdische und arabische Geschichten sind der Ursprung ihres Erzählens. Seit einiger Zeit hat Revital Herzog aber auch ein zweites Programm mit irischen Geschichten, aus dem sie auch heute vortragen wird. Es ist diese Lust am Fabulieren, die ihr an den Iren gefällt wie an den Beduinen. Vor hundert Jahren waren auf der Insel die Schneider die wichtigsten Erzähler. Sie reisten von Ort zu Ort und überbrachten Neuigkeiten und Klatsch. »Wenn ein Schneider nicht erzählen konnte, bekam er keine Arbeit. Manchmal waren die Anzüge nicht besonders gut, aber sie waren immer mit einer Geschichte verbunden.«
»Erzählen geht von Mensch zu Mensch. Das ist ein richtiger Dialog«Es ist die Freiheit des Erzählers, die Revital Herzog fasziniert. »Ich lerne nie etwas auswendig. Ich kann Geschichten verändern, kann Neues erfinden, kann spontan etwas hinzufügen oder weglassen.« Und: »Beim Erzählen kann ich die deutsche Grammatik vergessen, die ich sowieso nicht beherrsche.«
Sie spürt, dass das Interesse an solchen Veranstaltungen wieder zunimmt, deshalb die Tübinger Aktion zum Weltgeschichtetag. Vielleicht, überlegt steckt eine Art Sehnsucht dahinter. »Wir leben in einer Konsumwelt, da steckt wenig Seele drin. Erzählen aber geht von Mensch zu Mensch, mit allen Fehlern, die dabei sein können.«
Die Geschichten, findet sie, schaffen Wärme, eine Beziehung zwischen Erzähler und Zuhörer. »Das ist ein richtiger Dialog.« Der manchen Besucher auftauen lässt, der zuerst mit fest verschränkten Armen wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzt. (GEA)